July 27, 2024

Islam Alijaj wurde am Sonntag in den Nationalrat gewählt. Im Interview stichelt er gegen die SP und sagt, wieso Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt gehören.

Daniel KrähenbühlStefan LanzIslam Alijaj mit Unterstützerinnen und Unterstützern. Die Freude ob der Wahl in den Nationalrat ist gross. Im Bild: Alijaj mit Campaigner Daniel Graf.«Menschen wie ich gehören nicht in Einrichtungen, um dort Couverts zu falten, sondern auf den ersten Arbeitsmarkt», sagt Alijaj.

Darum gehts

  • Der Handicap-Lobbyist Islam Alijaj wurde am Sonntag vom Listenplatz 11 in den Nationalrat gewählt.

  • Alijaj lebt mit einer Zerebralparese – er sitzt im Rollstuhl und hat eine Sprechbehinderung. Kognitiv eingeschränkt ist er nicht.

  • Letztes Jahr wurde er ins Zürcher Stadtparlament gewählt, nun folgt die Wahl nach Bundesbern.

  • Die Parlamentsdienste wollen sicherstellen, dass Alijaj seine Arbeit «ohne Einschränkungen» wahrnehmen kann.

Er ist mit einer Zerebralparese – einer schweren körperlichen Behinderung – auf die Welt gekommen, hat als Secondo Wurzeln im Kosovo und heisst Islam. Am Wahlsonntag avancierte der 37-jährige Islam Alijaj zum Überraschungssieger: Mit über 95’000 Stimmen wurde er in den Nationalrat gewählt. 

Sie sind die erste Person mit Zerebralparese und die erste Person mit kosovarischen Wurzeln, die in den Nationalrat gewählt wurde. Was ging Ihnen nach dem Sieg durch den Kopf?
Erst mal gar nichts – ich habe einige Momente gebraucht, um zu verstehen, was gestern tatsächlich passiert ist. In meinem Leben musste viel passieren, dass aus dem schwer behinderten Jungen aus Kosova, der mit 16 das schulische Niveau eines Sechstklässlers hatte, weil er eine Sonderschule besucht hat, ein gewählter Parlamentarier werden konnte. Heute bin ich voller Tatendrang: Ich habe nun die einmalige Chance, vielen Menschen endlich eine Stimme zu geben. Ich habe Demut vor der grossen Aufgabe im Nationalrat und freue mich zugleich ungemein auf die kommenden Herausforderungen.

Sie hatten ein Wahlkampfbudget von 195'700 Franken. Ein grosser Teil davon kam von der Firma Ihrer Familie. Welche Rolle spielten diese Zuwendungen für Ihren Sieg?
Ein sehr grosser Teil davon musste für Assistenzleistungen aufgewendet werden. Insofern war das Budget wesentlich für den Erfolg. Hinzu kommt: Die SP hatte mich mit einem aussichtslosen Listenplatz bedacht. Und die Sichtbarkeit, die in einem Kanton mit 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner notwendig ist, um das zu korrigieren, kostet auch Geld.

«Die SP hatte mich mit einem aussichtslosen Listenplatz bedacht.»

Sie sind Secondo, leben mit einer Behinderung und heissen Islam. Keine optimalen Bedingungen, um als Politiker gewählt zu werden. Wie hat es trotzdem geklappt?
Diese Kampagne konnte nur gelingen, weil sich viele Menschen hinter einer Idee versammelt haben und gemeinsam Geschichte schreiben wollten. Ich selbst kann mit meinen Voraussetzungen nicht so Wahlkampf machen wie andere, aber unzählige Unterstützerinnen und Unterstützer – viele von ihnen selbst mit Beeinträchtigungen – haben für mich plakatiert, Flyer verteilt, Veranstaltungen organisiert, gespendet, auf Social Media für mich geworben und meine Kandidatur in die Fläche getragen. Meine Wahl ist ihr Erfolg. Hinzukommt, dass die Agentur Farner einen hochprofessionellen Wahlkampf konzipiert und
mein engstes Team diesen fantastisch umgesetzt hat.

Wie hat Ihre Familie auf Ihre Wahl reagiert?
Die Freude war natürlich riesig. Und es hat mich sehr bewegt, wie stolz meine beiden Kinder auf ihren Papi waren. Ich mache das ja auch für sie und sage auf allen Veranstaltungen immer einen sehr harten Satz, der seine Kraft aber bis heute leider nicht verloren hat: Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, in der ihr eigener Vater als minderwertig angesehen wird. Ich habe aber noch nicht darüber nachgedacht, wie die Wahl meinen Alltag verändern wird. Klar ist, dass die Politik nun natürlich eine noch grössere Rolle spielen wird, als sie dies heute ohnehin schon tut.

Was sind Ihre Ziele im Nationalrat? 
In erster Linie will ich das Behindertenwesen endlich umkrempeln. Ich will, dass wir als Gesellschaft die Potenziale erkennen und Menschen mit Behinderungen die Assistenzleistungen ermöglichen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen. Menschen wie ich gehören nicht in Einrichtungen, um dort Couverts zu falten, sondern auf den ersten Arbeitsmarkt.

Klar ist aber auch: Behindertenpolitik ist keine Nische, sondern ein Querschnittsthema, das viele Politikfelder berührt. Und ich werde bei Gesetzen künftig fragen können: Und was heisst das für uns, die 22,2 Prozent unserer Gesellschaft, die mit Behinderungen leben?

«Menschen wie ich gehören nicht in Einrichtungen, um dort Couverts zu falten, sondern auf den ersten Arbeitsmarkt.»

Im Wahlkampf kritisierten Sie, dass die UN-Behindertenkonvention in der Schweiz noch lange nicht umgesetzt sei. Welche Situationen nerven Sie besonders?
Etwa, wenn ich in Zürich nur jedes dritte Tram nehmen kann und im Winter lange in der Kälte an der Haltestelle warten muss. Der Rollstuhl wurde 1869 patentiert. Das Zürcher Tram wurde 1882 eingeführt. Wir fliegen zum Mond, wir spalten Atome, aber ich sitze da im Jahr 2023 und scheitere an einer verdammten Treppe.

Als Person mit Zerebralparese fällt Ihnen das Sprechen schwer. Die Sprache ist aber eines der wichtigsten Mittel von Politikerinnen und Politikern. Setzen Sie künftig auf KI-Systeme?
Ich glaube, viele sind auch froh, dass ich nicht so viel reden kann, wie viele andere Politikerinnen und Politiker. Aber Spass beiseite: Die Sprechassistenz wird mich auch im Nationalrat begleiten. KI ist für Menschen mit Behinderungen eine riesige Chance für mehr Selbstbestimmung und Barrierefreiheit. Je nachdem, wie schnell sich die Technik entwickelt, kann ich mir gut vorstellen, mich in Zukunft auch digital dolmetschen zu lassen.

«KI ist für Menschen mit Behinderungen eine riesige Chance für mehr Selbstbestimmung und Barrierefreiheit.»

Lebst du oder lebt jemand, den du kennst, mit einer Behinderung?

Hier findest du Hilfe:

Verzeichnis der Behindertenorganisationen des Bundes

Inclusion Handicap, Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, Information und Rechtsberatung

EnableMe, Portal und Community von und für Menschen mit Behinderungen

«Das Bundeshaus ist rollstuhlgängig»

Die Parlamentsdienste klärten in den nächsten Tagen und Wochen mit Nationalrat Islam Alijaj ab, welche Bedürfnisse er für die Ausübung seines Mandats habe, sagt Karin Burkhalter, Sprecherin der Parlamentsdienste. «Wir werden dafür sorgen, dass er seine Arbeit im Bundeshaus uneingeschränkt ausüben kann.»

Das Bundeshaus und auch die Ratssäle von National- und Ständerat seien vollständig rollstuhlgängig, grössere bauliche Massnahmen seien darum nicht notwendig. «Wir nehmen auch darauf Rücksicht, dass Islam Alijaj, wie auch Philipp Kutter und Christian Lohr, einen Platz bei seiner Fraktion erhält und nicht abseits sitzen muss», so Burkhalter.

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