Als Zeichen gegen die manipulierte Präsidentenwahl haben am Sonntag zahlreiche Menschen in Russland um Punkt zwölf Uhr ihre Stimme abgegeben. Zu dem Protest hatte noch Alexei Nawalny aufgerufen.
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Genau um zwölf Uhr mittags ist die Menschenschlange besonders lang, reicht über den gesamten Hof der staatlichen Schule Nr. 1498 im Süden Moskaus. Die Menschen sind hier, um ihre Stimme abzugeben, eigentlich müsste das die Behörden freuen. Doch die hatten davor gewarnt, ausgerechnet um 12 Uhr am dritten Abstimmungstag zu den Wahlbüros zu kommen. Denn «Mittags gegen Putin» heisst der Protest, zu dem Alexei Nawalny vor seinem Tod aufgerufen hatte. High Noon in Moskau also.
«Diese Zeit war für uns einfach die günstigste», antwortet eine junge Frau grinsend auf die Frage, warum sie ausgerechnet jetzt zum Wahllokal gekommen sei. «Wir haben halt alle bis elf geschlafen», sagt eine andere neben ihr in der Schlange und lacht: «Drei Tage lang haben wir geschlafen.» Drei Tage dauert in Russland die Abstimmung, mit der sich Wladimir Putin zum fünften Mal im Amt bestätigen lassen will. Niemand zweifelt daran, dass er haushoch gewinnen wird.
Niemand will seinen Nachnamen preisgeben
Genauso wenig bezweifeln die Menschen in dieser Mittagsschlange, dass jeder hier den wahren Grund für ihr Timing kennt. Sie sind hier aus Protest. Doch laut aussprechen möchte das niemand, zu riskant. Man kann auch so getrost davon ausgehen, dass die meisten Leute hier mittags nicht für Putin stimmen. «Ich stimme für niemanden», sagt Tatjana leise, eine ältere Frau mit blauer Mütze, niemand hier will mehr als seinen Vornamen preisgeben. Von den nächsten sechs Jahren erwartet sich Tatjana nichts Gutes. «Wir wurden unserer Zukunft beraubt», sagt sie. «Ich habe mein Leben gelebt, aber die jungen Menschen tun mir so leid.»
Die russischen Behörden waren spürbar nervös vor diesem dritten Wahltag. Manch Moskauer erhielt eine SMS oder Telegram-Nachricht mit warnenden Worten: Es gebe Hinweise, stand darin, dass der Empfänger dieser Nachricht «Ideen einer extremistischen Organisation» unterstütze – als solche war Nawalnys gesamtes Netzwerk bereits 2021 verboten worden. Man solle nicht auf diese Leute hereinfallen, sondern «in aller Ruhe, ohne Warteschlangen und Provokationen wählen», stand dort.
Brände in Wahllokalen
Tatsächlich war nicht überall Protest erkennbar, schon im Wahllokal nur einen Kilometer von Schule Nr. 1498 entfernt war mittags wenig los. In den unabhängigen Medien und sozialen Netzwerken aber kursierten schnell Fotos von längeren Schlangen wartender Mittagswähler im ganzen Land, in Sankt Petersburg, in Nowosibirsk, in Jekaterinburg, in Moskau unweit des berühmten Arbats genauso wie in weniger zentralen Wahlbezirken, etwa dort, wo der jetzt inhaftierte Oppositionelle Ilja Jaschin früher Abgeordneter war.
Im Wahllokal in der Schule im Moskauer Süden geht alles sehr friedlich zu. Raucher müssen an den Eingängen ihre Feuerzeuge abgeben, in mehreren Städten hatte es Brände in Wahllokalen gegeben, am Freitag hatte eine Frau in Moskau beispielsweise eine Wahlkabine angezündet, in Sankt Petersburg ein junger Mann einen Molotowcocktail geworfen.
In der Schule läuft man einen rosa und gelb gestrichenen Flur entlang zu den Wahlkabinen. Hinter den gut einen Meter hohen Plastikurnen steht ein Sicherheitsmann. Er schaut genau hin, wenn jemand seinen Zettel hineinwirft, einige sind mehrfach gefaltet, andere fallen offen in die durchsichtige Urne. Auf mehreren sind einfach alle Kästchen angekreuzt – ungültig.
In mehreren Regionen kippten Wähler leuchtend grüne Farbe in die Urnen, um die Zettel zu verderben. Ella Pamfilowa, Leiterin der Wahlkommission, behauptete, sie seien aus dem Ausland dafür bezahlt worden. Russlands Behörden erklären innerrussischen Protest gerne damit, dass der Westen dahinterstecke.
74 Festnahmen
Anna ist mittags mit ihren beiden Töchter gekommen, die Teenager sind noch zu jung zum Wählen, aber alle drei sind gut gelaunt. «Es ist wichtig, für den richtigen Kandidaten zu stimmen», sagt Anna, braune Locken, mit übertrieben ernster Stimme. Und warum mittags? «Wissen Sie», sagt sie, «das ist die richtige Zeit zum Wählen. Nicht morgens und nicht abends, jetzt.» Sie sei sehr froh, dass so viele andere Menschen auch «zur richtigen Zeit» gekommen seien.
Bis um 14 Uhr Moskauer Zeit hatten laut Wahlkommission bereits 66 Prozent der Wähler abgestimmt – ein höherer Wert als bei der Präsidentschaftswahl 2018. Die Bürgerrechtsorganisation OWD-Info zählt die Festnahmen am Wahlwochenende, allein am Sonntag waren es bis zum Nachmittag bereits 74. In Moskau wurde ein Mitarbeiter der Wahlkommission festgenommen, weil er ein T-Shirt mit einer kleinen Nawalny-Aufschrift trug. Ungefährlicher war es, Nawalnys Namen auf den Stimmzettel zu schreiben, der damit natürlich auch nicht zählte.
Egal wie lang die Schlangen am Sonntagmittag waren, die Behörden werden sicher das gewünschte Ergebnis für Putin erzielen. Der hat seine Stimme bereits am Freitag abgegeben, der Kreml hat ein Video dazu veröffentlicht: Putin setzt sich an den Schreibtisch, ein Klick, ein kurzes Nicken. Dann schaut er in die Kamera und winkt noch kurz.
Scheinwahlen in Russland
Silke Bigalke berichtet seit Ende 2018 als Korrespondentin aus Moskau. Mehr Infos@SilkeBigalke
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