July 27, 2024

«Moment von grosser Bedeutung»: Michelle O'Neill (rechts), Erste Ministerin Nordirlands, und Mary Lou McDonald, Chefin von Sinn Fein.

Regierung und Opposition in London haben am Donnerstag der Bildung einer neuen gemischtkonfessionellen Regierung für Nordirland gemeinsam den Weg geebnet. Sie stimmten im Unterhaus für neue Bestimmungen, die es den nordirischen Unionisten ermöglichen sollen, ihren zweijährigen Boykott der Selbstverwaltung in der Provinz endlich aufzugeben und Nordirlands Parlament und Regierung unverzüglich wieder in Gang zu setzen.

Die neue nordirische Regierung, die gemäss dem Belfaster Friedensvertrag von 1998 von beiden Lagern in der Provinz beschickt werden muss, soll nun an diesem Samstag gebildet werden. Der Posten der Ersten Ministerin fällt dabei der Sinn-Fein-Politikerin Michelle O’Neill zu, die die Partei der irischen Republikaner in Nordirland führt.

Sinn Fein gewann letzte Parlamentswahlen

Die Partei der Demokratischen Unionisten (DUP), die massgebliche Partei auf der protestantischen Seite, wird den Posten des Stellvertretenden Ersten Ministers übernehmen. Dieser hat faktisch die gleichen Befugnisse wie die Erste Ministerin, steht aber in deren Schatten in gewissem Mass.

Mit der Bestellung O’Neills zur Ersten Ministerin rückt erstmals in der Geschichte Nordirlands ein Repräsentant oder eine Repräsentantin des irisch-katholischen Lagers an die Spitze der nordirischen Regierung. Bisher wurden nordirische Regierungen immer von Unionisten geführt.

Bei den letzten Wahlen zum Parlament im Mai 2022 errang Sinn Fein 27 Sitze, während die DUP es nur auf 25 brachte. Die auf Ausgleich bedachte Alliance Party kam auf 17 Sitze, als dritte Kraft.

Republikaner wollen irische Wiedervereinigung

Für Irlands Republikaner, die die irische Wiedervereinigung anstreben, bedeutet die Ernennung von Michelle O’Neill einen «historischen» Durchbruch auf der Grünen Insel. Vor Unterzeichnung des Belfaster Friedensvertrags war Sinn Fein – als politischer Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) – weithin verpönt in Irland.

Inzwischen liegt sie auch im Süden der Insel, in der irischen Republik, in der Volksgunst an erster Stelle und erwartet, nach den dortigen Parlamentswahlen an der Dubliner Regierung beteiligt zu sein. Unter diesen Umständen sei die irische Einheit «in greifbare Nähe gerückt», jubelte diese Woche Mary Lou McDonald, die Vorsitzende Sinn Feins für die gesamte irische Insel.

Michelle O’Neills Ernennung am Wochenende werde «ein Moment von grosser Bedeutung» sein, sagte McDonald. «Nicht nur, weil es so lange keine Regierung in Nordirland gab, sondern auch, weil es das erste Mal ist, dass wir jemand von Sinn Fein, jemand aus dem nationalistischen Lager auf dem Posten des First Minister haben werden.» Dieser Augenblick unterstreiche «den Wandel, der sich auf der ganzen Insel vollzieht», sagte O’Neill.

Glaubt nicht an eine Mehrheit für die irische Einheit: Jeffrey Donaldson (links), Chef der Unionisten.

Sir Jeffrey Donaldson, der Chef der DUP, zeigte sich gelassen. Er geht nicht davon aus, dass sich auf absehbare Zeit in Nordirland eine Mehrheit für die irische Einheit findet – und sieht sich durch Umfragen in dieser Überzeugung bestärkt.

Donaldson fand sich allerdings von der eigenen Wählerschaft gedrängt, seinen Post-Brexit-Boykott der nordirischen Selbstverwaltungsgremien aufzugeben und wieder eine funktionierende Administration und reguläre Parlamentsarbeit in Stormont zuzulassen. Deshalb hatte er in Verhandlungen mit der britischen Regierung neue Zusicherungen für die enge Anbindung Nordirlands an den Rest des Vereinigten Königreichs erwirkt.

Abbau der Brexit-Kontrollen zu Nordirland

Denn bei den Brexit-Verträgen, die Ex-Premier Boris Johnson mit der EU schloss, war vereinbart worden, dass Nordirland als einziger Teil des Vereinigten Königreichs weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts folgen würde – in der Absicht, die innerirische Grenze offen zu halten. Das hatte zu Handelskontrollen für den Warenverkehr aus England, Wales und Schottland nach Nordirland geführt.

Diese Kontrollen hatte Regierungschef Rishi Sunak voriges Jahr mit dem sogenannten Windsor-Rahmenabkommen zu mildern versucht. Der DUP ging das aber nicht weit genug.

Mit den jüngsten Massnahmen, die nun Donaldsons Zustimmung fanden und die am Donnerstag im Unterhaus abgesegnet wurden, sollen die Kontrollen für Waren, die zum Verbleib in Nordirland gedacht sind, weiter reduziert werden. Mit einer Reihe feierlicher Erklärungen strich London ausserdem die enge britische Verbindung mit der Provinz nachdrücklich heraus.

Ganz aufgehoben sind die Warenkontrollen allerdings nicht. Das hat Unruhe unter unversöhnlichen Protestanten geschaffen. Auch innerhalb der DUP muss Parteichef Donaldson mit weiterem Widerstand rechnen gegen seinen Kurs.

Die EU-Kommission und die irische Regierung wollen wiederum «in nächster Zeit sorgfältig prüfen», ob die neuen Londoner Massnahmen in irgendwelchen Punkten gegen das Windsor-Rahmenabkommen verstossen. Ein Veto legten sie zuletzt nicht ein: Sie wollen nicht beschuldigt werden, die Regierungsbildung in Nordirland sabotiert zu haben, die auch ihnen «äusserst wichtig» ist.

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