July 27, 2024

Laute Töne: Argentiniens Präsident Javier Milei während seines Wahlkampfs in Buenos Aires (August 2023).

Der Smaragdsittich, sagt Vera López, sei ein faszinierendes Tier. Ein kleiner, grün-brauner Papagei, der nicht im Dschungel lebt, sondern in den Wäldern Patagoniens, so weit südlich wie keine andere Art.

López sitzt in ihrem Büro in Bariloche, einer Stadt am Fuss der argentinischen Anden. Sie ist Biologin, 30 Jahre alt und trägt bunte Gummisandalen. Zwischen Kartons und Büchern steht irgendwo ihr Schreibtisch, an der Wand hängt das Bild eines Smaragdsittichs.

Seit drei Jahren hat sie diese Vögel beobachtet und deren Nester inspiziert, hoch oben in irgendwelchen Astlöchern. Zwei Jahre noch, dann wollte sie ihre Doktorarbeit abgeben. Aber dann kam Javier Milei.

Selbst ernannter Anarchokapitalist

Im vergangenen November hat der 53-Jährige die Stichwahlen in Argentinien gewonnen. Ein selbst ernannter Anarchokapitalist, der den Staat verachtet und den Markt verehrt. Schon im Wahlkampf hatte Milei versprochen, er werde die nationale Forschungsbehörde Conicet schliessen. Die Wissenschaftler sollten ihr Geld selbst verdienen, wie «anständige Bürger», sagte er. Und so ist es gekommen: «No hay plata», sagt Milei. Wir haben kein Geld.

Argentinien hat fast 400 Milliarden Dollar Schulden, und die Inflation liegt bei rund 250 Prozent. Milei hat jetzt also den «Kettensägen-Plan» eingeleitet, ein hartes Sparprogramm. Die Zahl der Ministerien wurde halbiert, die Währung abgewertet, Subventionen gestrichen.

Im Januar gab es tatsächlich einen Haushaltsüberschuss, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren. Die Inflation sinkt, die Aktien steigen, Milei jubelt: «Viva la libertad, carajo!» Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal. Aber auch die Armut lebt, bei fast 60 Prozent liegt sie jetzt, rund ein Zehntel mehr als noch im Dezember. Mileis Umfragewerte sind seit seinem Amtsantritt stark gesunken, mehr als die Hälfte der Argentinier lehnt ihn mittlerweile ab.

Eindeutige Geste: Mehr als die Hälfte aller Argentinierinnen und Argentinier lehnen Präsident Milei mittlerweile ab. Anti-Regierungs-Demonstration in Buenos Aires (Februar 2024)

Manche fragen sich jetzt, ob die neue Regierung nicht zu weit geht. Da ist zum einen die Sorge, dass sie das Land nicht gesund-, sondern kaputtspart. Alle öffentlichen Bauaufträge wurden gestoppt, trotz maroder Infrastruktur. 

Und dann ist da die Wissenschaft. Das Institut, an dem Vera López forscht, hat letztes Jahr zwar ein neues Gebäude bekommen, gerade aber ist mal wieder das Internet ausgefallen, weshalb nun die Kollegen zu ihr in den alten Nebenbau kommen. «Kann ich mich da hinsetzen?», fragt eine junge Forscherin. López schiebt ihre Sachen zusammen. 

Argentinien galt bisher in Südamerika als führend in der Wissenschaft. Allein das Conicet, die staatliche Forschungsbehörde, hat 11’000 Stipendiaten, eine davon ist Vera López. Sie wisse von keinem Land in Südamerika, in dem es etwas Vergleichbares gebe: «Einzigartig», sagt sie.

Geldverschwendung, sagt Javier Milei.

«Totaler Wahnsinn»

Das Wissenschaftsministerium hat er gleich nach Amtsantritt dichtgemacht. Noch ein paar Monate, sagen die Forschenden, dann ist das Geld alle. Totaler Wahnsinn sei das, findet López. Viele ihrer Freunde in der Wissenschaft würden schon darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen.

Sie organisieren jetzt Demonstrationen, aber wie soll man jemanden wie Milei vom Wert der Wissenschaft überzeugen? «Der glaubt ja nicht mal an den menschengemachten Klimawandel», sagt sie.

Milei will Abtreibungen in Argentinien wieder unter Strafe stellen. Im Februar hat seine Regierung das Nationale Institut gegen Diskriminierung und Rassismus geschlossen – offiziell, um Geld zu sparen. Im Netz feierten Mileis Anhänger die Entscheidung. Endlich sei Schluss mit dem woken Unsinn. 

Je weiter Mileis radikales Sparprogramm voranschreitet, desto öfter stellt sich die Frage, wie sehr es dabei eigentlich noch ums Geld geht – und wie oft um Ideologie.

«Baustopp» – Die Jobs sind weg

1500 Kilometer von Bariloche entfernt, zündet Juan Berdun vor seinem kleinen Haus ein Feuer an, darüber ein russiger Gusseisentopf. Der habe mal seiner Oma gehört, sagt Berdun. «Gut, dass die ihn aufgehoben hat.»

Merlo liegt am Rand von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires. Wellblechdächer, unverputzte Mauern, schon immer habe er hier gewohnt, sagt Juan Berdun. Er hat schon so ziemlich alles gemacht, in Fabriken gearbeitet, Ware ausgeliefert, auf dem Bau geschuftet. Aber die Jobs sind jetzt weg. «Baustopp», sagt Berdun. 

Jetzt halten er und seine Frau die Familie mit einem kleinen Gemüseladen über Wasser. Und zweimal in der Woche kochen sie für die Kinder im Viertel. Dafür bekommen sie umgerechnet 70 Euro im Monat und Lebensmittel von der Regierung. So war das zumindest bis jetzt. Denn seit dem Amtsantritt von Javier Milei, sagt Juan Berdun, habe er kein Gramm Nudeln mehr bekommen, keine Polenta, kein Öl. «Nichts», sagt er und bläst in die Flammen.

Leben am Rand am Rand von Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires: Zweimal in der Woche kocht Berdun für die Kinder im Viertel.

Keiner weiss, wie viele Suppenküchen es in Argentinien gibt. 35’000, wahrscheinlich aber mehr – Millionen Menschen sind auf sie ganz oder teilweise angewiesen. Entstanden sind manche dieser Küchen bereits 2001, in der letzten grossen Krise. Nachbarn taten sich zusammen, der eine hatte Nudeln, der andere Tomaten, der dritte einen grossen Topf. Aus den improvisierten Mahlzeiten wurden irgendwann soziale Bewegungen.

Diese Bewegungen, sagt Berdun, würden Suppenküchen bei der Organisation helfen. Oft haben sie auch die Nahrungsmittel in die Armenviertel gebracht. Man wolle dieses «ineffiziente System» jetzt von «Grund auf reformieren», heisst es aus dem früheren Sozialministerium, das jetzt «Ministerium für Humankapital» heisst. Und weil in der Vergangenheit immer «Mittel abgezweigt» worden seien bei den Suppenküchen, bekommen die jetzt im Zweifelsfall gar nichts mehr. Lieber Hunger als ein Haushaltsdefizit.

Kritiker glauben, dass die Sparmassnahmen auch einen anderen Zweck haben: Viele der sozialen Organisationen sind links – und wenn es sein muss, können sie mit Demos die halbe Innenstadt von Buenos Aires lahmlegen. Will die rechte Regierung von Javier Milei da lästige Gegner loswerden? Dafür spricht, dass die Einrichtungen der evangelikalen Kirchen weiter Unterstützung bekommen. Nur Suppenküchen wie die von Juan Berdun gehen leer aus. 

Kinder jagen Frösche – etwas müssen sie ja essen

Das Öl im Topf blubbert, Berduns Frau bringt die Teigfladen. Früher sagt sie, habe es mehrere Suppenküchen im Viertel gegeben. «Aber die sind jetzt alle zu.» Was passieren würde, wenn sie auch schliessen? Schweigen. Eine der Helferinnen sagt, dass manche Kinder aus dem Viertel angefangen haben, Frösche zu jagen. «Irgendwas müssen sie ja essen.»

Wie kann es sein, dass dieses Land mit endlosen Feldern und sattgrünen Weiden immer wieder so abstürzt? «Ist doch klar», sagt Cristian Fochi: «Die Linken haben Argentinien ruiniert.»

Es ist früher Nachmittag in Tres Lomas, einer Stadt mit 10’000 Einwohnern und zwei Ampeln. Fochi sitzt in einer Gelateria und zündet sich eine Mentholzigarette an. Er ist 25 Jahre alt, seine Unterarme sind tätowiert. Hier ist er aufgewachsen, hat Handys repariert und Sicherheitskameras installiert. Eigentlich sei er nie ein politischer Mensch gewesen, sagt er, aber dann sah er Videos von Javier Milei im Netz. Er hörte, wie er auf die korrupten Politiker schimpfte. «Das fand ich gut», sagt Fochi.

Denn es sei doch so: «Vor hundert Jahren waren wir mal eine Weltmacht», sagt Fochi. Er schreit es fast. Aber dann seien die Sozialisten gekommen und hätten sich das Geld selbst in die Taschen gesteckt.

Das eigentliche Problem seien aber die Nichtstuer, die seit Jahren auf gut bezahlten öffentlichen Stellen sitzen. «Da soll Milei ruhig mal durchgehen mit seiner Motorsäge», so sieht Fochi das.

Die Linken seien schuld an allem

Natürlich: Die Kürzungen seien hart. Auch hier, in Tres Lomas, werde alles teurer. «Aber dann muss man eben ein bisschen mehr arbeiten», mache er doch auch so. Dass es Kinder in Argentinien gibt, die hungern, findet Fochi natürlich schlimm. Aber wenn die Suppenküchen keine Lebensmittellieferungen mehr bekämen, liege das vermutlich daran, dass sie vorher nicht ordentlich gearbeitet hätten.

Und natürlich müsse man auch bei der Forschungsbehörde Conicet sparen. Früher hätten die Wissenschaftler bestimmt gute Arbeit gemacht. Aber jetzt gebe es Forscher, die untersuchen würden, welchen Einfluss die männlichen Rollenbilder in Superheldencomics auf Kinder haben. Reine «Genderideologie», findet Fochi. 

In der Suppenküche von Juan Berdun, 500 Kilometer entfernt, ist der letzte Teigfladen verteilt. «Bis nächste Woche», sagt Berdun zu ein paar Kindern und dass es dann Nudeleintopf gebe. Vorausgesetzt natürlich, das Wetter stimmt. Denn ein Dach über der Kochstelle können sie sich nicht leisten. Sie hoffen jetzt einfach, dass es nicht regnet. Sonst müssen die Kinder hungern.

Auf der anderen Seite des Landes, am Fuss der Anden, hofft Vera López, dass das Internet nicht auch noch bei ihr im Gebäude ausfällt. Sie hat die meisten ihrer Daten in der Cloud gespeichert. Zum Glück, denn vor ein paar Wochen hätten Einbrecher ihren Computer geklaut. Ihr Freund hat ihr seinen Laptop geliehen. Einen eigenen könne sie sich gerade nicht leisten, sagt sie. No hay plata – sie habe einfach kein Geld. Wie so viele.

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