July 27, 2024

Soldaten tragen den Sarg der Sanitäterin Diana Wagner während der Gedenkfeier im St. Michaels-Kloster in Kiew, im Februar 2024.

In der ukrainischen Bevölkerung ist ein Stimmungswechsel zu beobachten. Nur noch 44 Prozent meinen, es entwickle sich alles in eine wünschenswerte Richtung. Das entspricht dem tiefsten Wert, den das Kiewer Internationale Institut für Soziologie (KIIS) je gemessen hat, seit Russland vor fast genau zwei Jahren den Grossangriff gestartet hat. Im Mai 2022 waren noch 68 Prozent optimistisch, Ende 2023 dann 54 Prozent. 

Nun beurteilen erstmals mehr Ukrainer die Entwicklungen negativ (46 Prozent) als positiv (44 Prozent). 10 Prozent können sich nicht entscheiden. Für die Umfrage wurden über 1200 Menschen befragt, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium leben. Die Studie gilt als repräsentativ, die Daten wurden allerdings vom 5. bis zum 10. Februar erhoben. Dies sei eine «heisse Phase» gewesen, schreibt der KIIS-Direktor Anton Hrushetski, da Wolodimir Selenski in diesem Zeitraum einen neuen Oberbefehlshaber ernannte. Deshalb lasse sich erst etwas später sagen, was sich für eine Haltung in der ukrainischen Bevölkerung definitiv durchsetze.

Präsident Selenski versucht weiterhin, Zuversicht zu verbreiten. «Wir müssen gewinnen. Sicherheit kann nur durch Stärke erreicht werden», sagte er in einer Videoansprache am vergangenen Mittwoch.

Dass die Zuversicht abnimmt, überrascht indes nicht bei einem andauernden Zermürbungskrieg. Der Studienleiter weist aber darauf hin, dass anhand der Umfrageergebnisse keine Gründe für den Vertrauensrückgang festzumachen seien. Hrushetski spricht deshalb von «Annahmen», wenn er die Resultate einordnet.

So sei davon auszugehen, dass die Absetzung von Waleri Saluschni einen Einfluss hatte. Der ehemalige Armeechef geniesst weiterhin das grösste Vertrauen in der ukrainischen Bevölkerung (94 Prozent stehen hinter ihm). Seine Zustimmungswerte sind seit Dezember konstant geblieben, während Präsident Selenski am stärksten an Rückhalt verloren hat (von 77 auf 64 Prozent). Dem neuen Oberbefehlshaber Olexander Sirski vertrauen nur zwei von fünf Ukrainern, allerdings kennen ihn auch fast gleich viele Ukrainerinnen nicht.

Ukrainer fühlen sich vom Westen verraten

Ein entscheidender Faktor sei letztlich auch die Unterstützung des Westens, sagte der KIIS-Direktor Hrushetski bereits im Dezember. Dass diese seit Monaten stockt, habe einen negativen psychologischen Effekt. «Für die Ukrainer ist es bedauerlich und schmerzlich, die erbärmliche Aussage ‹Wir stehen an der Seite der Ukraine› zu hören und dennoch nicht genügend Hilfe zu erhalten». Immer mehr Ukrainer würden dies als Heuchelei und Verrat sogenannter Freunde betrachten.

Auch die schwierige Kriegslage dürfte viele Ukrainer verunsichern. Russland rückt an der Front langsam, aber stetig vor. Solange die Ukraine nicht immense Waffen- und Munitionslieferungen erhält, scheint eine Umkehr der Entwicklungen unwahrscheinlich. Hinzu kommen zahlreiche Korruptionsskandale, beispielsweise beim Kauf von Munition oder im Rekrutierungsprozess, was dem Vertrauen in die ukrainische Regierung wohl schadet. Auch eine anstehende Gesetzesreform, um mehr Soldaten zu mobilisieren, sorgt in der Ukraine für Unmut.

Präsident Selenski versucht deshalb, Zuversicht zu verbreiten. «Wir müssen gewinnen. Sicherheit kann nur durch Stärke erreicht werden», sagte er in einer Videoansprache am vergangenen Mittwoch. Dass viele Ukrainer pessimistisch denken, heisst aber nicht, dass ihr Durchhaltewillen gebrochen ist. Noch im Dezember gab die absolute Mehrheit (87 Prozent) an, dass sie Russland zum Scheitern bringen könnten, wenn der Westen angemessen mit Waffen, Finanzen und Sanktionen helfe.

Schwierige Phase für die Ukraine

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