September 8, 2024

Ihr Zerwürfnis ist tiefgreifend: Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

Manche Auftritte schreiben Geschichte, so improvisiert sie auch daherkommen mögen. Es war schon bald Mitternacht, viel später als gedacht, als Emmanuel Macron im Wintergarten des Élysée vor die Medien trat, um darüber zu berichten, wie sich der am Montagabend in Paris versammelte Westen über die Ukraine ausgetauscht hat, über deren Bedürfnisse im Abwehrkrieg gegen Russland.

Und nichts liess erahnen, dass die Medienkonferenz eine ganze Weile in Erinnerung bleiben dürfte. Man hatte ja nur vorgehabt, Einigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren, ein Signal an Wladimir Putin zu senden, damit sich der nicht zu siegessicher wähnt.

Die 21 Staats- und Regierungschefs waren schon weg. Manche hielten beim Gehen noch ein paar Minuten inne und redeten mit den Reportern. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz war einer der Ersten, die aufbrachen. Er ging, ohne zu reden. Wahrscheinlich sass Scholz schon im Flugzeug, als Macron über ihn zu reden begann – ohne ihn namentlich zu nennen, natürlich, aber das war auch nicht nötig.

Macron: «Man darf nichts ausschliessen»

Der Franzose wirkte wach wie immer. Ein Journalist fragte ihn, was er denn von der Aussage des slowakischen Premiers halte, der vor der Entsendung westlicher Bodentruppen in die Ukraine gewarnt hatte. Und so setzte Macron diese Sätze, im Wortlaut: «Über alles wurde gesprochen, sehr frei und direkt. Es gibt heute keinen Konsens darüber, offiziell Bodentruppen zu schicken. Doch für die Zukunft darf man nichts ausschliessen. Wir werden alles tun, damit Russland diesen Krieg nicht gewinnt.» (Lesen Sie zum Thema die Analyse «Macron spricht von Bodentruppen – und will den Weltretter geben».)

Und dann: «Viele Leute, die heute ‹Nie, nie› sagen, waren dieselben, die vor zwei Jahren ‹Nie, nie› zu den Panzern gesagt hatten, ‹Nie, nie› zu den Jets, ‹Nie, nie› zu den Langstreckenraketen, ‹Nie, nie› das und jenes. Ich erinnere Sie daran, dass viele, die heute um diesen Tisch sassen, vor zwei Jahren sagten: ‹Wir schlagen Schlafsäcke und Helme vor.›» Gemeint war Olaf Scholz. Der sich aber, wie in Berlin am Tag darauf zu hören war, gar nicht angesprochen fühlte.

Macron und Scholz sind so unterschiedlich in ihrem ganzen Auftreten, dass man sich fragen muss, ob das jemals noch etwas werden kann mit den beiden. Macron glaubt wohl, er müsse mehr reden, weil Scholz kaum redet. Scholz findet offenbar, dass Macron zu viel redet. Und beide sind auf ihre Weise davon überzeugt, dass ihrem jeweiligen Land die Führungsrolle in Europa zukommt.

Streit um Europas Sicherheitspolitik

Spannungen und Streit hat es bei aller Freundschaft immer wieder gegeben zwischen Berlin und Paris, aber die ziemlich unverhohlene Kritik Macrons an Scholz an diesem Montagabend in Paris ist doch ungewöhnlich – ausgerechnet in einem Augenblick, da der Westen seine Geschlossenheit gegenüber Russland zeigen will.

Macron wünscht sich ein sicherheitspolitisch eigenständiges Europa, Scholz hält an der engen Verbindung mit den USA fest. Dies zeigt sich auch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, nach dem Scholz ein Sondervermögen eingerichtet hat, um die deutsche Armee zu stärken. Viel Geld fliesst nun für ein israelisches System zur Luftverteidigung und für US-Kampfflugzeuge vom Typ F-35, die im Extremfall US-Atomwaffen transportieren können.

Die Ukraine braucht keine Diskussion über Bodentruppen: Olaf Scholz.

Macron hält den deutschen Ansatz für falsch: Aus seiner Sicht müsste Deutschland europäische Rüstungshersteller stärken, statt in den USA und Israel einzukaufen. Beim Treffen in Paris hat er sich nun immerhin darauf eingelassen, von der Ukraine dringend benötigte Artilleriemunition auch ausserhalb Europas zu beschaffen.

Am Tag nach dem Pariser Treffen stellte Olaf Scholz denn auch klar, dass er das derzeit für die wichtige Frage hält. Man habe «sehr intensiv und sehr gut» über mehr Unterstützung für die Ukraine diskutiert, sagte er am Dienstag. Da gehe es um Waffen, Munition und Luftverteidigung. Was die Ukraine im Moment nicht brauche, sagte der Kanzler auch: eine Diskussion über Bodentruppen.

Scholz: Niemand will Bodentruppen entsenden

In Paris sei besprochen worden, «dass das, was von Anfang an miteinander festgelegt worden ist, auch für die Zukunft gilt, nämlich, dass es keine Bodentruppen, keine Soldaten auf ukrainischem Boden geben wird, die von europäischen Staaten oder von Nato-Staaten dorthin geschickt werden».

In der deutschen Regierung wird darauf verwiesen, dass kein einziger der in Paris Versammelten sich für die Entsendung von Bodentruppen ausgesprochen habe. Nicht einmal aus dem Kreis der Osteuropäer habe jemand dafür plädiert. Dass Macron laut über Bodentruppen nachdenkt, kann man sich in Berlin nur mit der für Atommächte typischen «strategischen Ambiguität» erklären. Die Gegenseite soll über die eigenen Absichten im Unklaren gelassen werden.

Mit seinem Vorpreschen hat Macron nun das Kunststück vollbracht, die ganze deutsche Regierung hinter dem Kanzler zu versammeln. Über die Ablehnung von Nato-Bodentruppen für die Ukraine herrscht Einigkeit. Zwischen Scholz und Macron dürfte es nun aber noch schwieriger werden als zuvor.

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