July 27, 2024

Sie stellt sich als Wohltäterin dar: Die russische Kinderrechtskommissarin Maria Lwowa-Belowa (rechts) und eine Gruppe von Kindern aus Mariupol bei ihrer Ankunft in Moskau im Herbst 2022.

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Sie werden entführt oder mit falschen Versprechen von zu Hause weggelockt: Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine sind zahlreiche Kinder und Jugendliche aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland verschleppt worden. Ukrainische Behörden sprechen von bisher knapp 20’000 Fällen – nach offiziellen Angaben zurückgekehrt sind nur 388 Kinder. Russische Stellen wollen dagegen bis zu 600’000 Kinder «in Sicherheit gebracht» haben.

Bereits im März 2023 erliess der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und die russische Kinderrechtskommissarin Maria Lwowa-Belowa. Denn die rechtswidrigen Deportationen von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation gelten als Kriegsverbrechen. Seither hat sich wenig geändert, Kinder werden weiter nach Russland entführt. Dort kommen sie in Waisenhäuser und werden zur Adoption an russische Familien freigegeben. Im Mai 2022 unterzeichnete Putin ein Dekret, um die Adoption von ukrainischen Waisenkindern zu vereinfachen.

Neue Recherchen von unabhängigen russischen Medien dokumentieren den Umgang der russischen Behörden mit verschleppten ukrainischen Kindern. Die Situation für die betroffenen Minderjährigen ist dramatisch: Es gibt Berichte über überforderte Familien, die adoptierte Kinder wieder ins Waisenhaus schicken. Über Kinder, die an russischen Schulen verprügelt werden. Über Todesfälle. Und die gezielte Überwachung von entführten Minderjährigen, weil diese als «terroristisches Risiko» gelten.

Hoffnung? «Sagen Sie direkt, dass sie gestorben sind»

Die unabhängige russische Zeitung «Meduza» mit Hauptsitz in Lettland studierte über tausend geleakte Regierungsdokumente und sprach mit Mitarbeitern des zuständigen russischen Bildungsministeriums. Laut einigen dieser Dokumente ist es die Aufgabe von russischen Lehrpersonen, den ukrainischen Kindern eine «russische Identität zu vermitteln».

Der «Indoktrinationsprozess» beginnt gemäss der Zeitung, sobald die abgeschobenen ukrainischen Kinder in Russland ankommen. In einem Leitfaden für Beamte wird davor gewarnt, dass Kinder nach ihrer Ankunft in Russland zu «Opposition», «Launenhaftigkeit» und «Misstrauen gegenüber Erwachsenen» neigen. Ausserdem hätten viele Schwierigkeiten, «eine objektive Sicht auf die sich entwickelnde Situation zu gewinnen».

Das Dokument enthält laut «Meduza» auch Anweisungen für den Umgang mit Gesprächen über Familienmitglieder der Kinder: Man solle ihnen keine Hoffnung machen. «Sagen Sie direkt, dass sie gestorben sind.» Dies werde auch getan, wenn über den Aufenthaltsort der Familie nichts bekannt sei, so eine Quelle des Ministeriums gegenüber «Meduza».

Software soll Risikoprofil für jedes Kind erstellen

Die «Integration» der entführten ukrainischen Kinder sei dem Kreml besonders wichtig, da sich die Behörden vor aufständischen Minderjährigen fürchten. Einer Quelle von «Meduza» zufolge haben die Beamten des Ministeriums «wirklich Angst» vor diesem Szenario. «Die Vorstellung, dass ukrainische Kinder potenzielle Terroristen sind, beherrscht unsere Gespräche. Wir sind keine Idioten – wir wissen, dass Russland nicht mit ‹Frieden und Freundlichkeit› in die Ukraine gekommen ist», so die Quelle. Hinter den Kulissen werde sogar auf Führungsebene über diese Möglichkeit diskutiert, so die Quelle.

Um die Situation unter Kontrolle zu halten, werden Kinder aus den besetzten Gebieten laut «Meduza» digital überwacht. Gemäss zwei Quellen aus dem Ministerium setzt man auf eine Software namens Profilaktika. Das Programm verfolgt nach Informationen über 540 Millionen Profile von Teenagern in sozialen Medien.

Profilaktika werde zur Überwachung der Verbreitung von «Nazismus» und «anderen Formen destruktiver Informationen» im digitalen Raum eingesetzt. Es sei ein «Big Brother für Teenager», sagte ein Beamter gegenüber «Meduza». Es verwende neuronale Netze, «um ein Risikoprofil für jedes Kind zu erstellen – Suizid, Terrorismus, Extremismus.»

Es ist unklar, wie effektiv dieses Programm ist. «Meduza» hat Dutzende von Risikoprofilen erhalten, die mit Daten aus der Software erstellt wurden. Jedes Profil enthält gemäss der Zeitung das Foto, die Adresse und die Telefonnummer der Person sowie eine detaillierte Analyse ihrer Social-Media-Konten. «[Die Software] hilft den Strafverfolgungsbehörden bei der Identifizierung von Oppositionsaktivisten und Gegnern der russischen Behörden», so eine Quelle aus dem Bildungsministerium.

Angst, Depression und Suizidgedanken

«Meduza» hat auch Dokumente gesichtet, die über den mentalen Zustand der verschleppten Kinder berichten. Laut der Zeitung sind Gespräche von ukrainischen Kindern mit russischen Psychologen über Angstzustände, Schock, Panik und Suizidgedanken dokumentiert. Sie berichteten, dass sie Angst vor «lauten Geräuschen» haben und unter Trauer und Depression leiden. In der ersten Hälfte des Jahres 2023 verzeichnete das Ministerium nach Informationen von «Meduza» den Tod von fünf Kindern aus den besetzten Gebieten. Eines der Kinder beging demnach Suizid.

Viele Kinder sind laut dem Bericht auch besorgt darüber, dass sie «wegen ihres starken Dialekts stigmatisiert werden» und «Schwierigkeiten haben, sich schnell in die russische Sprache einzufinden».

Russische Freiwillige, die in den besetzten Gebieten in Schulen arbeiten, berichten gegenüber «Meduza» von angespannten Situationen in Klassenzimmern. Viele russische Studenten – geprägt von der ukrainefeindlichen Rhetorik der Regierung – vermeiden Interaktionen mit ukrainischen Kindern. In einigen Fällen kam es zu Mobbing und verbalen Erniedrigungen. Es gibt mehrere Berichte, in denen ukrainische Kinder an russischen Schulen zusammengeschlagen wurden. 

Zurück ins Waisenhaus

Die russischen Behörden stellen sich in der Öffentlichkeit als gutmütige Wohltäter dar, die ukrainische Kinder vor den ukrainischen Nazis in Sicherheit bringen wollen. «Natürlich haben die Russen ein grosses Herz und stehen schon Schlange, um sich um diese Kinder zu kümmern», sagte die Kinderrechtskommissarin Maria Lwowa-Belowa im März 2022 in einem publizierten Gespräch mit Wladimir Putin.

Die Realität sieht jedoch anders aus: Das unabhängige russische Portal «iStories» berichtete von Familien, die schwer traumatisierte Kinder adoptierten und damit völlig überfordert waren. «Es gab Fälle, in denen die Familie nicht zurechtkam und [die Kinder] aufgeben musste», sagte ein Regierungsmitarbeiter. Die Eltern seien «erschöpft» und «am Rande eines Nervenzusammenbruchs». Diese Kinder, die bereits Krieg und Zwangsdeportation erlebt haben, erleben dann eine erneute Traumatisierung: Sie gelangen wieder ins russische System zur «Integration» und werden erneut in ein Waisenhaus geschickt.

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