July 26, 2024

Eine Feier in Rot: Vor dem Istanbuler Rathaus herrscht nach der Wahl Euphorie.

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Die Stadt hat er gewonnen, und vielleicht gewinnt er in ein paar Jahren das ganze Land. Was ihm jetzt schon gehört, ist diese Nacht. Es ist nach Mitternacht, als Ekrem İmamoglu aufs Dach des Buses steigt, den sie ihm vor das Rathaus gestellt haben. Vor sein Rathaus. Für seine Party.

Als İmamoglu erscheint, haben sie auf dem Platz schon stundenlang die Luft in Brand gesetzt. Das bengalische Feuer, die türkischen Flaggen, es ist eine Feier in rot. Eine Million Menschen sollen es sein, sagt ein Vorredner, vielleicht stimmt das sogar. Und sie feiern irgendwo zwischen Euphorie und dem eher stillen Gefühl, von dem eine Frau sagt, sie wisse noch gar nicht, wie sie es nennen soll. Kann sie sich doch zu hoffen trauen, nach all den Rückschlägen? Die Fassung suchen, um zu begreifen, dass dieser Abend für die Opposition viel besser lief als erwartet?

Jedenfalls steht da zwischen denen, die die Songs mitsingen und die Fahnen schwenken, zum Beispiel ein junger Mann mit einem Pappschild. Auf dem Schild steht eine Gedichtzeile: «Du bist meine einzige Hoffnung, verstehst du?» Das ist Ali Ekber, ein 22 Jahre alter Istanbuler, der gerade einen Job sucht. Und das Schild hält er jetzt in Richtung von İmamoglu. «Das ist er», sagt er. «Meine Hoffnung.»

Wenn İmamoğlu die Krawatte auszieht, wissen seine Anhänger, dass er gleich spricht.

Um ihn herum strahlen sie, Ekber nicht, der starrt ernst zu dem Bus, als stünde auf dessen Dach – ja, wer? Der Erlöser? So sieht er ihn zumindest an. So feiern sie ihn, den Gewinner dieser Nacht, ihren alten und neuen Oberbürgermeister, wiedergewählt mit grösserem Abstand, als die Umfragen vorhergesagt hatten. Den Mann, mit dem an diesem 31. März vielleicht das Ende der Erdogan-Zeit begonnen hat.

İmamoglu muss nicht viel sagen, er ist ohnehin heiser vom Wahlkampf

«Meine geliebten Istanbuler», sagt İmamoglu. So fängt er an. Und dann zieht er erst einmal sein Jackett aus und die Krawatte, er macht das fast in jeder Rede, im Publikum warten sie schon darauf. Er krempelt die Ärmel hoch, ganz langsam, er kostet das aus. Und unten schreien sie, während İmamoglu schweigt: «Ekrem, Präsident!» Nicht alle. Manche schreien jetzt auch: «Tayyip, tritt zurück!»

Schwer zu sagen, was die Magie um diesen Mann ausmacht. Er muss nicht viel sagen, es reicht, wenn er auf der Bühne steht, wenn er, wie ein Showmaster, die verschiedenen Istanbuler Stadtteile ausruft, in den Jubel hinein. İmamoglu ist heiser, all die Auftritte der letzten Tage. Er hat sich in einen Rausch geredet. Jetzt, in der Nacht, brüllt er ins Mikro, als würde er der Technik nicht vertrauen.

Einen Satz sagt İmamoglu, der bleibt: «Heute ist die Ein-Mann-Herrschaft vorbei.» So klingt die Türkei in dieser Nacht. Eine Botschaft an Erdogan, anders kann man es nicht nennen, wie die Türkinnen und Türken bei den Kommunalwahlen am Sonntag abgestimmt haben. Nicht nur in Istanbul, wo sie hupend im Stau stehen und aus den Autofenstern jubeln, eine Stadt wie eine Fanmeile.

Ein landesweiter Sieg: Zum ersten Mal überhaupt liegt die CHP, İmamoglus Partei, in der ganzen Türkei vor Erdogans AKP, eine Demütigung für den Präsidenten. Die CHP holte ihr bestes Ergebnis seit einem halben Jahrhundert. In Istanbul fielen konservative Bezirke, in denen sonst Erdogan immer gewann, erstmals an die Opposition. Und im Land? Die Karte der Türkei sieht an diesem Wahlabend anders aus als bei früheren Wahlen. Deutlich röter, in der Farbe der CHP.

Viele AKP-Anhänger scheinen diesmal zu Hause geblieben zu sein

Es war auf dem Land, wo Erdogan vor knapp einem Jahr die Präsidentschaftswahlen gewann. Jetzt am Sonntag entschieden sich die Wählerinnen und Wähler in Städten wie Bursa oder Sanlıurfa, auf die sich der Präsident immer verlassen konnte, zum ersten Mal anders. Da ist fast eine neue Parteienlandschaft entstanden: die AKP auf dem zweiten Platz, die ultrarechte MHP, die mit Erdogan koaliert, nur noch bei rund drei Prozent.

Die niedrigere Wahlbeteiligung ist ein Zeichen, dass viele von Erdogans Anhängern zu Hause blieben. Andere wichen auf eine neue islamistische Partei aus, die sich rechts der AKP gegründet hat, die «Yeniden Refah Partisi». Und manche wechselten eben zur Opposition, wie die Frau, die in der Istanbuler Nacht auf den Platz vor İmamoglus Bus kommt und ein Gesicht macht, als wäre sie eben einem Wunderheiler begegnet. Sie habe ihr ganzes Leben lang Erdogan gewählt, sagt sie. «Bis heute.»

Da ist dieser Neue, an den sie glaubt. İmamoglu, den das Land vor fünf Jahren, als er zum ersten Mal Istanbuler Oberbürgermeister werden wollte, erst mal googeln musste. Und der von nun an, neben Erdogan, in der Türkei ein zweites Machtzentrum bildet. Um die beiden wird sich die türkische Politik künftig drehen. Der eine regiert das Land, der andere die grösste Stadt.

Aber nicht nur. İmamoglu könnte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten. Und schon heute hat er auch auf anderem Gebiet etwas zu sagen, im Gefühlshaushalt des Landes nämlich. Da war viel Apathie nach den Wahlen im vergangenen Jahr, enttäuschte Hoffnung, da erschienen zuletzt Artikel unter der Überschrift: Wird Erdogan auf Lebenszeit regieren?

Selbst Erdogan spricht von einem Wendepunkt

Wenn İmamoglu, der informelle Spitzenkandidat der Opposition bei den Kommunalwahlen, der kommende Mann der Türkei ist, dann heisst das ja auch, dass der Aktuelle nicht für immer da sein muss. Das ist das Gefühl, das İmamoglu der Türkei in dieser Nacht schenkt, und an das sich manche erst gewöhnen müssen: Ach, doch nicht alles verloren?

Erdogan hat seine Heimatstadt in der Nacht wortlos verlassen. Ohne sich vorher zu äussern, fliegt der Präsident von Istanbul nach Ankara, erst dort, auf dem Balkon seiner Parteizentrale, spricht er zum Volk. Und sagt, dass diese Wahlen «nicht das Ende» seien, nur «ein Wendepunkt.» Erdogans Balkonreden an Wahlabenden, für ihn und die Seinen waren sie zwei Jahrzehnte lang ein Synonym für ihre Siegesfeiern.

«Wir sind wieder auf dem Balkon», rief Erdogan vergangenes Jahr, als er doch wieder gewonnen hatte, wie immer, als die Opposition doch wieder verloren hatte, wie immer. Und jetzt? Was bleibt von diesen ersten Aprilstunden des Jahres 2024, ist vermutlich, dass in der Türkei ein paar Gewissheiten nicht mehr gelten.

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