Die Terrorattacken der Hamas haben die Palästinenserfrage auf die geopolitische Tagesordnung katapultiert. Doch für einen eigenen Staat sieht es schlecht aus.
Die Frage nach einem eigenen Staat für die Palästinenser hatte selbst für arabische Länder zuletzt keine Priorität – im Gegenteil. Ein Land nach dem anderen schloss seit 2020 ein Abkommen mit Israel, es schien so etwas wie eine neue Normalität im Nahen Osten einzuziehen.
Zuletzt dürfte auch ein Vertrag mit Saudiarabien unterschriftsreif gewesen sein. Kronprinz Mohammed bin Salman, der De-facto-Herrscher des Königreichs, sprach in einem Interview mit Fox News sogar davon, dass «das Leben der Palästinenser erleichtert» werden solle. Dabei verfolgen die Saudis vor allem eigene Interessen. Die palästinensische Führung, so hiess es, dürfe im Gegenzug mit grosszügigen saudischen Finanzhilfen rechnen und weiter darauf hoffen, dass die Tür für eine spätere Staatsgründung geöffnet bleibt.
Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas indes hat keine Möglichkeit, noch direkten Einfluss zu nehmen. Er ist 87 Jahre alt, ein Präsident ohne Land und ein Anführer ohne Volk, der von seinen arabischen Brüdern immer seltener eingeladen wird und auch in den palästinensischen Gebieten immer weniger zu sagen hat.
Hamas gegen Annäherung zwischen Saudiarabien und Hamas
Die militanten palästinensischen Gruppen wiederum sehen in der Entwicklung nichts anderes als einen Ausverkauf. Vertreter der Hamas, des Islamischen Jihad und der Volksfront zur Befreiung Palästinas verdammten Ende September die saudischen Verhandlungen mit Israel als «Verrat am Blut der Märtyrer und am arabischen Volk». Zugleich kündigten sie an, den Kampf gegen Israel zu eskalieren. Eineinhalb Wochen später kam es zum Massaker in Israel.
Hamas beansprucht ganz Palästina – vom Mittelmeer bis zum Jordan. Ein Existenzrecht Israels wird ignoriert.
Die Hamas hat ein Jahr nach ihrer Gründung 1987 in ihrer Charta ein klares Ziel definiert: «Die Islamische Widerstandsbewegung», so heisst es darin, «ist eine spezifisch palästinensische Bewegung, treu Gott ergeben. Der Islam dient ihr als Lebensentwurf. Sie strebt danach, das Banner Gottes über ganz Palästina, jeder Handbreit davon, aufzupflanzen.»
Auch wenn die Charta von der Führung verbal mehrmals abgeschwächt wurde, der Anspruch bleibt: auf ganz Palästina – vom Mittelmeer bis zum Jordan. Ein Existenzrecht Israels wird ignoriert. (Lesen Sie zum Hamas-Terror das Interview mit Experte Peter Neumann: «Für die Hamas sind die Geiseln ein Köder, um die Israelis in die Falle zu locken».)
Abbas gehört dagegen zu den Architekten dessen, was man Zweistaatenlösung nennt. Er erarbeitete 1977 mit dem israelischen General Mattityahu Peled die «Prinzipien für den Frieden», in denen erstmals eine Zweistaatenlösung skizziert wurde – gegen den Widerstand des damaligen Palästinenserführers Jassir Arafat.
Auf dieser Grundlage allerdings begann der Oslo-Friedensprozess. Zu den Unterzeichnern des Abkommens am 13. September 1993 gehörte auch Abbas, der damals als Aussenminister wirkte. Vom Ziel der Staatsgründung ist Abbas weiter entfernt denn je. Friedensgespräche mit den Israelis gibt es seit 2014 nicht mehr. Die rechtsreligiöse Regierung in Jerusalem propagiert offen den Anspruch auf das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan.
Mitglieder der rechtsreligiösen Regierung in Israel erheben offen den Anspruch auf «Grossisrael».
Als Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu bei seiner Rede in der UNO-Generalversammlung Ende September eine Karte des «Neuen Nahen Ostens» hochhielt, da konnte man Israel als kleinen, dunklen Fleck im Zentrum entdecken. Der von ihm als Israel gekennzeichnete Bereich umfasste das Westjordanland und den Gazastreifen.
Mitglieder der seit Jahresbeginn amtierenden rechtsreligiösen Regierung in Israel erheben offen Anspruch auf «Grossisrael». Die beiden Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich fordern die Annexion palästinensischer Gebiete. «So etwas wie Palästinenser gibt es nicht», sagte Smotrich. Sie treten für die Vertreibung grosser Teile der palästinensischen Bevölkerung aus dem Westjordanland ein. (Mehr dazu: «Katar, Syrien, Irak und alle anderen – so stehen die Länder in der Region zu Israel».)
5,5 Millionen Flüchtlinge laut UNO
Neben 600’000 jüdischen Siedlern leben dort mehr als 2 Millionen Palästinenser, im Gazastreifen sind es 2,23 Millionen. Nach der Staatsgründung Israels 1948 und dem Sechstagekrieg 1967 wurden Hunderttausende Palästinenser vertrieben oder haben ihr Zuhause verlassen. Die meisten begaben sich in Nachbarländer. In Jordanien sind 3 von 10 Millionen Einwohnern palästinensischen Ursprungs, im Libanon rund eine halbe Million – 8 Prozent der Bevölkerung. In Syrien leben rund 400’000.
Ein 1949 gegründetes Flüchtlingshilfswerk der UNO (UNWRA) kümmert sich um die Palästinenserinnen und Palästinenser. Israel kritisiert die UNRWA seit Jahren und wirft ihr vor, dass die Organisation mittlerweile 5,5 Millionen Menschen den Flüchtlingsstatus zuerkennt. Die Palästinenser selbst und auch die Nachbarstaaten dringen deshalb auf den Flüchtlingsstatus, weil damit der Anspruch auf einen eigenen Staat aufrechtbleibt – zumindest formal, auch wenn real keine Verwirklichung in Sicht ist.