July 27, 2024

Ein amerikanischer F-15E-Kampfjet auf dem englischen Royal-Air-Force-Stützpunkt Lakenheath, 2015. Mit dem Kampfjet lassen sich Atombomben abschiessen.

Immer mehr Politiker und Militärs in Grossbritannien warnen dieser Tage vor einer rasch wachsenden Kriegsgefahr für ihr eigenes Land und ganz Europa. Was nun aber zusätzliche Nervosität ausgelöst hat, ist die Nachricht, dass erstmals seit 15 Jahren wieder US-Atomwaffen auf englischem Territorium gelagert werden sollen.

Die Atomwaffen sind offenbar für den Royal-Air-Force-Stützpunkt Lakenheath nordöstlich der Stadt Cambridge bestimmt. Bei den Waffen soll es sich um B61-12-Präzisionsbomben mit der mindestens dreifachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe handeln.

Zu den Berichten, die Londons «Daily Telegraph» aus dem Pentagon erhalten haben soll, nahm die britische Regierung keine Stellung. In Militärkreisen auf der Insel zweifelt aber niemand an der Information. Im Jahr 2008 waren von Washington die letzten US-Atomwaffen aus England abgezogen worden. Teils, weil sich die internationale Lage nach dem Ende des Kalten Kriegs entspannt hatte, und teils wegen der anhaltenden Proteste im Land.

Weltuntergangsuhr steht kurz vor Mitternacht

Jetzt, klagt Kate Hudson, die Generalsekretärin der Anti-Atomwaffen-Organisation «Campaign for Nuclear Disarmament» (CND), kehre man zu einer Situation zurück, «in der wir alle erneut an die Frontlinie eines Atomkriegs rücken».

Mittlerweile sind neue Demonstrationen geplant gegen die Stationierung der US-Waffen ebenso wie gegen das eigene britische Arsenal (bestehend aus vier U-Booten, die total 260 Atomraketen an Bord haben können). Die legendäre «Doomsday Clock», eine von Atomwissenschaftlern regelmässig neu gestellte «Weltuntergangsuhr», die das Risiko einer globalen Katastrophe verdeutlichen soll, zeige gegenwärtig immerhin 90 Sekunden vor Mitternacht an, meint der Anti-Atomwaffen-Verband alarmiert.

Im August 2014 demonstrierten Hunderte gegen Nuklearwaffen in Newport, einer Stadt in Wales.

Auf die «Doomsday Clock» verweist auch Oberst Hamish de Bretton-Gordon, ein früherer britischer Kommandeur der ABC-Spezialeinheiten der Nato. Allerdings zieht Bretton-Gordon andere Schlüsse aus dieser Endzeitwarnung der Wissenschaft.

Die «Peaceniks» (Personen, die an Antikriegsdemos teilnehmen) müssten endlich aufhören, den Westen wegen seiner Wehrbereitschaft zu «dämonisieren», ist Bretton-Gordon überzeugt. Sie müssten «lernen, dass Tyrannen nur zurückstecken, wenn ihre Gegner sich stark und einig zeigen, wenn niemand Schwäche erkennen lässt».

Vor allem sei es in der gegenwärtigen Lage wichtig, meint der frühere Truppenchef, dass die Regierung «die Nation auf eine mögliche Katastrophe sachgemäss vorbereitet» – mithilfe von Informationen, Pamphleten und entsprechenden Apps. Sonst wisse ja niemand, «wie man sich für einen Atomschlag am besten wappnet, wie man auf ihn reagiert und wie man danach wieder auf die Beine kommt».

90 Millionen Tote in viereinhalb Stunden

Wie viele ihrer Landsleute wieder «auf die Beine» kämen, fragt man sich allerdings bei der Anti-Atomwaffen-Bewegung. Einer jüngsten Studie der Universität Princeton zufolge würden bei einem Abtausch von Atomschlägen zwischen Russland und dem Westen auf Anhieb 90 Millionen Menschen getötet – und das innerhalb von viereinhalb Stunden. Ganz abgesehen vom qualvollen Tod einer enormen Zahl weiterer Opfer danach.

Geradezu perplex stehen viele Briten und Britinnen dem neuen Gefühl der Unausweichlichkeit gegenüber, das ihnen mit einem Mal auch einige Politiker vermitteln. In einer unbekümmerten Art hat just Verteidigungsminister Grant Shapps bekundet, dass die Nachkriegszeit nun endgültig vorbei sei und sich seine Landsleute «in einer neuen Vorkriegswelt» wiederfänden. Alle Alarmleuchten «rot aufblinken» sieht auch Aussenminister David Cameron am «globalen Armaturenbrett».

Mehrere Militärs haben bereits davon gesprochen, dass der aktuellen Lage «ein Hauch von 1939» anhafte oder dass sie sie gar daran erinnere, wie Grossbritannien einst völlig unvorbereitet in den Ersten Weltkrieg geschlittert sei. Das Gefühl, von allen Seiten bedroht zu sein, hat auf der Insel in den letzten Tagen zu dramatischen Rüstungsappellen und zu einer heissen Debatte um eine neue Wehrpflicht geführt.

Experten machen zehn «Hotspots» aus

In gewisser Hinsicht sei «die jetzige Situation ja auch viel gefährlicher als 1914 oder 1939, weil so viele Nationen heute über Atomwaffen verfügen», meint dazu David Wearing, Dozent für internationale Beziehungen an der Uni Sussex. Und ein Atomkrieg müsse nicht mehr durch den vorgefassten Entschluss einer Seite ausgelöst werden, «die Apokalypse loszutreten». In einem Konfliktgebiet könnten die Spannungen einfach eskalieren und zu Missverständnissen und falschen Signalen führen, «woraufhin ein nuklearer Abtausch beginnt, obwohl ihn niemand gewollt hat».

An Konflikten und Spannungen wiederum herrsche heute ja kein Mangel, meint der Thinktank «Atlantic Council», der aktuell schon einmal zehn «Hotspots» ausgemacht hat – vom Ukraine-Krieg über Israel bis hin zu Nordkorea und zum Südchinesischen Meer. «Kaum jemals zuvor» sei das Potenzial für eine Konfrontation zwischen Atommächten so gross gewesen wie derzeit, befürchtet der Londoner Militär-Kommentator Cahal Milmo: «Gerade angesichts der weiter wachsenden Spannungen im Nahen Osten kommt einem ein Atomkrieg immer weniger unvorstellbar vor.»

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