July 27, 2024

König Abdullah II. hört zu, als US-Präsident Joe Biden die Gräuel des Hamas-Anschlags vom 7. Oktober beschreibt. Die beiden verbündeten Staatsoberhäupter haben eine sehr unterschiedliche Perspektive auf den Nahostkonflikt, wie am Montag bei ihrem Treffen im Weissen Haus deutlich wurde.

Es war kein einfacher Auftritt für Abdullah II., als er sich am Montagnachmittag im Weissen Haus hinter Joe Biden stellte. Der König von Jordanien war nach Washington gekommen, als erstes arabisches Staatsoberhaupt seit dem Ausbruch des Kriegs in Israel und Gaza, um sich bei dem US-Präsidenten für einen möglichst baldigen und dauernden Waffenstillstand einzusetzen.

Und nun stand er da, der Regent über das Land, das die grösste palästinensische Flüchtlingsgemeinde beherbergt, und hörte mit verkniffener Miene zu, was sein Gastgeber den Medien über die Unterhaltung berichtete. Es war ein Anschauungsbeispiel dafür, wie unterschiedlich die Perspektiven auf den Konflikt im Nahen Osten sind, selbst zwischen zwei Staatsoberhäuptern, die einander wohlgesinnt sind und dasselbe Ziel nennen, den Schutz unschuldiger Zivilisten.

Und welchen diplomatischen Hochseilakt Politiker wie Abdullah II. vollführen, wenn sie in die USA reisen, die von Teilen ihrer Landsleute als Quelle allen Übels betrachtet werden. Trotz der widrigen Umstände ist Abdullah II. ein enger Verbündeter der USA in der Region. Jordanien beherbergt rund 3500 US-Soldaten auf mehreren Basen, unter anderem an der Grenze zu Syrien, wo Ende Januar drei US-Soldaten bei einem Drohnenangriff ums Leben kamen.

Kraftausdrücke über Netanyahu

Vor laufenden Kameras stellt sich der US-Präsident uneingeschränkt hinter Israel, obwohl zuletzt in Washington durchgesickert war, dass der den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu hinter vorgehaltener Hand mit Kraftausdrücken beschreibt. Zunehmend sickern solche Anekdoten aus dem Weissen Haus durch. Ein Zeichen dafür, dass der US-Präsident seinen Kurs gegenüber Israel langsam zu justieren versucht.

Über den «tödlichsten Tag für das jüdische Volk seit dem Holocaust» hätten König Abdullah II. und er diskutiert, begann nun Biden am Montag den gemeinsamen Auftritt. Über den 7. Oktober 2023, «als Hamas in einem Akt von schierer Bosheit mehr als 1200 Menschen massakrierte». Er habe dem Gast klargemacht, dass die USA das Ziel Israels teilten, Hamas zu besiegen, sagte der US-Präsident, bevor er auch auf die «Tragödie» der Palästinenser zu sprechen kam, die «unvorstellbare Schmerzen und Verlust» erlitten, mit über 27’000 Toten.

Kronprinz Al Hussein bin Abdullah II., König Abdullah II. von Jordanien, US-Präsident Joe Biden, First Lady Jill Biden, und Königin Rania Al Abdullah stellen sich am 12. Februar 2024 bei ihrer Ankunft im Weissen Haus in Washington, DC, zum Fototermin auf.

Das Wort Waffenstillstand vermied Biden tunlichst; stattdessen redete er von seinen Anstrengungen, einen «Geisel-Deal» zu vermitteln, bei dem die Terrorgruppe alle verbliebenen Geiseln freilassen würde als Gegenleistung für eine «sofortige und anhaltende Periode von mindestens sechs Wochen Ruhe für Gaza», aus denen vielleicht etwas Längerfristiges entstehen könne. Biden forderte Israel auf, diesen Deal rasch abzuschliessen.

Die Spannung im Gesicht des Königs von Jordanien löste sich erst allmählich, als Biden auch mahnende Worte an Israel richtete. Zustimmend nickte der Jordanier, als der US-Präsident einen «glaubwürdigen Plan für die Sicherheit und die Unterstützung für mehr als 1 Million Menschen» verlangte, bevor die israelische Armee ihre Operationen im Grenzgebiet von Rafah weiterführe. Biden versprach, sich für eine Beschleunigung von Hilfslieferungen über weitere Routen einzusetzen.

Warnung vor einer weiteren humanitären Katastrophe

Höflich bedankte sich König Abdullah II. bei dem Gastgeber, um ihn dann aber persönlich in die Pflicht zu nehmen. «Ihre Führung, mein lieber Freund, Herr Präsident, ist der Schlüssel zu einer Lösung dieses Konflikts», sagte der 62-Jährige im vornehmen Englisch seiner britischen Mutter. Der Angriff Israels auf Rafah werde eine humanitäre Katastrophe auslösen, warnte er. «Wir können nicht daneben stehen und das geschehen lassen. Wir brauchen einen dauerhaften Waffenstillstand. Dieser Krieg muss enden.»

Der König dankte Biden, dass dieser sich für zusätzliche Hilfsgüter einsetze, und erinnerte an die Bedeutung der UNRWA, nicht zuletzt für die 2,3 Millionen Palästinenser in seinem Land. Das UNO-Hilfswerk für die Palästinenser hatte Biden totgeschwiegen, das Weisse Haus hatte seine Beiträge ausgesetzt, nachdem Israel UNRWA-Mitarbeitern eine Beteiligung an dem Hamas-Anschlag vorgeworfen hatte. Erst nach dem Abschluss einer Untersuchung will das Weisse Haus die Überweisungen wieder prüfen.

Der König von Jordanien drückte sich erneut darum, die Terrorgruppe Hamas beim Namen zu nennen und deren Angriff auf Israel zu verurteilen, auch mit Rücksicht auf die Palästinenser in seinem Land. Indirekt äusserte er sich allerdings sehr wohl dazu. «Alle Angriffe auf unschuldige Zivilisten, Frauen und Kinder, einschliesslich jener des 7. Oktober, sind inakzeptabel für jeden Muslim», sagte Abdullah II, der nun nach Kanada, Paris und schliesslich an die Sicherheitskonferenz in München weiter reist, um für einen Waffenstillstand zu werben.

Beim Ziel herrscht Einigkeit

Immerhin sind sich Biden und Abdullah II. über das langfristige Ziel in groben Zügen einig: Nötig sei ein politischer Plan, der zu einem gerechten Frieden auf der Basis einer Zwei-Staaten-Lösung führe, ebenso einem Frieden zwischen Israel und den arabischen Nachbarn. Bei den Bedingungen indes gehen die Vorstellungen bereits wieder weit auseinander. Zuerst müsse Hamas die Kontrolle über Gaza aufgeben, forderte Biden, dann müssten sich die palästinensischen Behörden reformieren. Abdullah II. hingegen pochte darauf, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt sein müsse eines palästinensischen Staates, in dem das Westjordanland und Gaza nicht mehr getrennt seien.

Indem Biden im Einklang mit dem Gast öffentlich darauf pochte, dass Israel bei der Militäroperation im Grenzgebiet Rafah Rücksicht nehmen muss auf die Zivilbevölkerung, hat er ein Signal an Israels Regierung geschickt. Dabei dürfte Biden auch an den Wahlkampf im eigenen Land gedacht haben: Bei der Präsidentschaftswahl vom 5. November könnte es ihn den Sieg kosten, wenn sich muslimische Wähler von ihm lossagen. Sie kritisieren Biden wegen seines uneingeschränkten Rückhalts für Israel hart und laut.

Zuletzt lud der US-Präsident Anführer muslimischer Organisationen zu Diskussionsrunden im Weissen Haus ein und entsandte Vertreter nach Michigan, wo arabischstämmige Wähler möglicherweise entscheidenden Einfluss haben könnten. Ihrer Forderung, Israel zu einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza zu drängen, ist Biden aber bisher nicht nachgekommen – ebenso wenig wie den Bitten des jordanischen Königs.

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