July 26, 2024

Eine armenische Familie flieht am 25. September 2023 aus Stepanakert, der Hauptstadt der Region Berg-Karabach. Kurz danach besetzte die aserbaidschanische Armee die Stadt, die bis heute praktisch menschenleer ist.

Jemand hat Narine Agarumjan den Link zu einem Tiktok-Video geschickt. Ein Garten ist da zu sehen, eine Laube, ein kleiner Swimmingpool und eine Schaukel. Der Garten gehört zu einem Haus in der Region Berg-Karabach, in dem Agarumjan aufgewachsen ist und in dem die heute 51-jährige Armenierin lebte – bis zu ihrer Vertreibung durch die aserbaidschanische Armee. Das Video wurde vermutlich in den vergangenen Wochen aufgenommen, von aserbaidschanischen Soldaten. Ein junger Mann in Tarnuniform schaukelt vergnügt in Agarumjans Garten und spricht in die Kamera. Auch wenn die Armenierin ihn nicht versteht, die Botschaft ist ihr klar: «Er will mir zeigen, dass ich mit meiner Familie nie mehr in unser Haus zurückkann», sagt Agarumjan beim Gespräch in einem Sozialzentrum in Jerewan.

Dass Agarumjan das Video erhielt, ist für die Sozialarbeiterin Elina Mechitarjan kein Zufall. Sie betreut in der armenischen Hauptstadt Jerewan geflüchtete Frauen aus Berg-Karabach: «Sie wollen uns einschüchtern. Das ist psychologische Kriegsführung.» Die Aserbaidschaner stellten bewusst Bilder von leeren armenischen Häusern und zerstörten armenischen Friedhöfen auf Tiktok oder Instagram, sagt Mechitarjan.

Neun Monate völlige Blockade

Der «Schwarze Garten», so die deutsche Übersetzung von «Karabach», gehört zwar formell zu Aserbaidschan, hatte in der Sowjetunion aber Autonomiestatus und sich 1994 als «Republik Arzach» für unabhängig erklärt – was weder international noch vom Nachbarstaat Armenien anerkannt wurde. 2020 eroberte Aserbaidschan weite Gebiete zurück. Das verbliebene, armenisch besiedelte Kerngebiet mit der Hauptstadt Stepanakert wurde unter den Schutz russischer Friedenstruppen gestellt. Doch 2023 drang die aserbaidschanische Armee auch in dieses Gebiet vor. 

Die endgültige Rückeroberung begann mit einer neunmonatigen Blockade. Aserbaidschan sperrte den Latschin-Korridor, die einzige Verbindung von Berg-Karabach zu Armenien. Der belagerten Region gingen langsam Treibstoff und Nahrung aus. Schulen und Märkte sperrten zu. Geflüchtete erzählen, wie hungrig und erschöpft sie in den letzten Wochen der Belagerung  bereits waren – es habe kaum noch Brot zu kaufen gegeben, keine Heizung mehr, keinen Strom. 

Die aserbaidschanische Armee habe die Menschen in Stepanakert über Lautsprecher zur Flucht aufgefordert, dann fielen Bomben, erzählt Sozialarbeiterin Elina Mechitarjan: «Wir alle dachten, jetzt müssen wir sterben.» Als schliesslich der Korridor nach Armenien geöffnet wurde, flohen Ende September 2023 in wenigen Tagen 100’000 Menschen nach Armenien – praktisch die gesamte armenische Bevölkerung Berg-Karabachs.

Für viele war es die zweite Flucht innert weniger Jahre. Auch für Narine Agarumjan. 2020 eroberten die Aserbaidschaner ihre Heimatstadt Hadrut. Über 300 Menschen seien dabei getötet worden, sagt Agarumjan. Die Mitarbeiterin des örtlichen Museums floh mit ihrer Familie nach Stepanakert. Doch es blieb ihnen kaum Zeit, eine neue Existenz aufzubauen. Ende September 2023 reihten sie sich mit ihrem Auto in die endlose Schlange ein, die über den Latschin-Korridor nach Armenien flohen.

Zum Verlust von Heimat und Habseligkeiten kommt bei den Geflüchteten aus Karabach das Gefühl hinzu, von Gott und der Welt verlassen worden zu sein. «Niemand hat unsere Hilfeschreie gehört, niemand interessiert sich für uns», das ist die konstante Klage in allen Erzählungen. Verlassen und verraten fühlen sich die Flüchtlinge von Russland, das vorgab, mit seinen Truppen den Frieden zu schützen, aber weder die Blockade noch den Einmarsch der Aserbaidschaner verhinderte. Verraten auch vom Westen, der zwar der Ukraine Waffenhilfe gegen Putins Überfall leistet, aber es sich im Kaukasus nicht mit dem Öl- und Gaslieferanten Aserbaidschan verscherzen will. Und schliesslich von den eigenen Regierungen in Stepanakert und in Jerewan, die es in 30 Jahren nicht schafften, die Eigenständigkeit Berg-Karabachs durch Kompromisse und Verträge abzusichern.

Heute ist Armenien mit seinen drei Millionen Einwohnern durch die Masse der Flüchtlinge schlicht überfordert. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sind die Lebenskosten im Land explodiert. Viele junge Russen strömten nach Jerewan, um der von Putin angeordneten Teilmobilmachung zu entkommen. Sie haben Geld und treiben die Mieten in die Höhe.

Für die  Einheimischen mit Durchschnittsgehältern von umgerechnet rund 500 Franken sind Wohnungen in der Hauptstadt heute kaum noch zu bezahlen. Noch weniger für Flüchtlinge. Von der armenischen Regierung erhält jede 2023 aus Berg-Karabach geflüchtete Person umgerechnet 100 Franken pro Monat. Allerdings nur noch bis März. Ob sich der armenische Staat danach überhaupt noch irgendeine Form von Unterstützung leisten kann, bleibt offen. Viele Flüchtlinge leben noch in Heimen, die von Regierung und Kirche notdürftig umgebaut wurden: Ganze Familien müssen sich oft einen nicht einmal 10 Quadratmeter grossen Raum teilen.

Flüchtlinge starben, als sie Benzin holten

Auch Marietta Howanessjan hat ein Zimmer in einem für Flüchtlinge umgenutzten Sportzentrum nördlich von Jerewan. Sie ist dort jedoch ganz allein. Ihr Mann und ihr Sohn starben als Soldaten im sogenannten Viertagekrieg gegen Aserbaidschan 2016. Ihr jüngerer Sohn wollte am 25. September 2023 Benzin holen, um sich und die Mutter mit dem Auto aus dem belagerten Stepanakert rauszubringen. Das Treibstoffdepot explodierte, in der langen Schlange der Wartenden starben mindestens 70 Menschen. Möglicherweise waren es auch dreimal so viele, die Zahl ist bis heute ungewiss.

Howanessjans Sohn wurde schwer verletzt, überlebte die folgenden Strapazen der Flucht aber nicht. Seine Mutter brachte seine Leiche bis nach Jerewan. Auf ihrem Mobiltelefon zeigt sie Fotos des jungen Mannes und seiner Grabstätte. Howanessjan hat einen Brief an Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijew geschrieben und ihn um Erlaubnis gebeten, den toten Sohn zurück in die Heimat zu bringen: «Er soll ein Grab in Berg-Karabach bekommen.» Auch sie selbst wolle «bloss noch nach Hause zurück, um dort zu sterben und begraben zu werden». Von Ilham Alijew hat sie keine Antwort bekommen.

Marietta Howanessjan zeigt das Foto ihres Sohnes. Er wurde bei der Explosion eines Treibstoffdepots schwer verletzt und starb wenig später auf der Flucht aus Berg-Karabach.

Aserbaidschan bietet den aus Berg-Karabach Geflüchteten die Rückkehr an. Sie hätten nichts zu befürchten, schreiben die regimetreuen Medien in Baku. Sie müssten bloss die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft annehmen. Doch den Versprechen trauen die Flüchtlinge nicht. Sie erinnern an die Massaker an Armeniern in den 1980er- und 1990er-Jahren in Aserbaidschan. Zudem ist das Regime von Ilham Alijew verbündet mit der Türkei – einem Staat, auf dessen Territorium 1915 rund eine Million Armenierinnen und Armenier ermordet wurden. Am Stadtrand von Jerewan erinnern ein Museum und ein mächtiges Mahnmal aus Beton an den Genozid.

Was heute geschehe, sei abermals ein Genozid, sagt Artak Beglarjan – und wieder schaue die Welt tatenlos zu. Die Geschichte des knapp 40-jährigen Beglarjan ist eng verbunden mit der Geschichte des gescheiterten Staates in Berg-Karabach. Als er sechs Jahre alt war, wurde sein Vater im Kampf gegen Aserbaidschan getötet. Als Achtjähriger stieg er im Garten des Elternhauses auf eine Landmine. Die Splitter zerstörten seine Augen.

Obwohl völlig erblindet, machte Beglarjan später Karriere in der international nicht anerkannten Regierung, war zeitweise Regierungschef und Justizminister, zuletzt Ombudsmann für Menschenrechte. Im vergangenen Herbst bekam er einen Hinweis, dass die Aserbaidschaner gezielt Jagd auf armenische Aktivisten machen würden. Auch auf ihn. In letzter Minute gelang ihm gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Familie die Flucht. Die Fahrt bis zur armenischen Grenze dauerte 27 Stunden, «die ganze Zeit habe ich mich im Auto versteckt und kaum bewegt», erzählt Beglarjan.

Der schmächtige Mann mit der hohen Stirn spricht energisch, präzise und in makellosem Englisch. Er ist nicht nur von Russland enttäuscht, das «uns hätte beschützen sollen». Er fühlt sich «auch vom Westen verraten». Ilham Alijew habe für die Vertreibung der Armenier aus Berg-Karabach grünes Licht von den USA und der EU bekommen, vermutet Beglarjan.

Artak Beglarjan erblindete, als er als Kind auf eine Mine trat. Später wurde er Minister in der international nicht anerkannten «Republik Arzach» und schaffte in letzter Minute die Flucht vor dem aserbaidschanischen Militär.

Der ehemalige Karabach-Politiker ist überzeugt, dass der Krieg noch nicht vorbei sei. Alijew werde die Gunst der Stunde nutzen und mehr armenische Gebiete an sich reissen, sagt Artak Beglarjan. Das sehen auch andere Flüchtlinge aus Berg-Karabach so. Selbst im Regierungsviertel von Jerewan macht sich Angst vor einem aserbaidschanischen Angriff breit. 

Auslöser ist ein Interview Ilham Alijews mit aserbaidschanischen Journalisten vor zwei Wochen. Darin fordert der autokratisch herrschende Staatschef freie Fahrt für Personen und Güter aus Aserbaidschan durch den sogenannten Sangesur-Korridor – also über armenisches Territorium in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Jeglicher Widerstand werde Armenien sehr schaden, droht Alijew. 

Im Westen wurde das Interview kaum wahrgenommen, in Jerewan aber ist die Politik alarmiert. Solche Forderungen seien «inakzeptabel», sagt der stellvertretende Aussenminister Paruir Howhanissjan. Aber was kann Armenien dem aserbaidschanischen Druck schon entgegensetzen? Wer würde ihm beistehen? 

Nach der Eroberung Berg-Karabachs durch die aserbaidschanische Armee kam Präsident Ilham Alijew am 8. November zu einer Truppenparade nach Stepanakert. Die Aserbaidschaner nennen die Stadt «Chankendi».

Das kleine Land im Südkaukasus ist umzingelt von Feinden: Auf der einen Seite Aserbaidschan, auf der anderen die Türkei. 30 Jahre lang setzten die Regierungen in Jerewan auf Russland als Schutzmacht. Doch als der Schutz wirklich notwendig wurde, wandte sich Moskau ab.

Nun reisen die Delegierten von Armeniens Premier Nikol Paschinjan nach Washington, Brüssel und Paris, um neue Freunde und neuen Schutz zu finden. Armenien hat einen Friedensplan für die gesamte Region Südkaukasus entworfen, mit neuen Strassen und Bahnverbindungen. Allerdings beharrt der Staat auf seiner Souveränität, auch im von Aserbaidschan geforderten Korridor nach Nachitschewan. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht.

Die Diplomatie der USA und der EU hat neben der Ukraine und Gaza kaum noch Ressourcen, sich auch noch um den Konflikt im Südkaukasus zu kümmern. Zudem wissen die Armenier selbst, dass sie der Welt – im Gegensatz zu Aserbaidschan – nicht viel zu bieten haben: kein Öl, kein Gas, nicht einmal bedeutende Transitrouten. «Wir sind doch die einzige Demokratie in der Region», sagt Vize-Aussenminister Howhanissjan. Es klingt ein wenig verzweifelt – und stimmt auch nur, wenn man das benachbarte Georgien ausblendet.

Flüchtlinge aus dem nicht mehr existierenden Staat «Arzach» in einem kirchlichen Flüchtlingsheim bei Jerewan: Alle hoffen noch auf eine baldige Rückkehr in die Heimat, obwohl das völlig unrealistisch scheint.

In Armenien herrscht derzeit Mangel an allem. Der Staat bräuchte mehr Soldaten, mehr Polizisten, mehr Personal in den Schulen und in den Spitälern. Unter den Geflüchteten aus Berg-Karabach gäbe es dieses Personal: junge Männer und junge Frauen, zum Teil gut ausgebildet, hungrig nach Arbeit und Sinn in ihrem Leben.

Das einzige Problem: Um staatliche Jobs in Armenien zu bekommen, müssten sie die armenische Staatsbürgerschaft annehmen. Und so seltsam das auch klingen mag: Die meisten Flüchtlinge wollen das nicht. Sie haben nur die Identitätskarte eines Staates, der niemals international anerkannt war und der nicht einmal mehr existiert. Doch die Annahme der armenischen Staatsbürgerschaft wäre für sie das Eingeständnis, dass sie nie mehr nach Berg-Karabach zurückkehren werden. 

Jene Frau, die ihr von aserbaidschanischen Soldaten besetztes Haus auf Tiktok entdeckte, lebt heute gemeinsam mit sechs Familienmitgliedern in einer winzigen Wohnung in Jerewan. Die 200 Franken Miete kann Narine Agarumjan von einem Hilfsjob bezahlen. Doch das Geld reicht nicht zum Leben für alle. Wie es weitergehen soll? So wie alle Flüchtlinge habe sie einen einzigen Wunsch, sagt Agarumjan: «Zurück nach Berg-Karabach. So schnell wie möglich.» Für die Anerkennung der bitteren Wahrheit, dass dieses armenisch geprägte Berg-Karabach nicht mehr existiert, ist die Frau vier Monate nach ihrer Vertreibung einfach noch nicht bereit.

Die Reise erfolgte mit organisatorischer Unterstützung der armenischen Gemeinde in Wien.

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@BernhardOdehnal

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