Für alle Nicht-EU-Bürger erhöht Schweden ab November die Einkommensanforderungen: Wer unter 27’000 Kronen verdient, muss gehen. Betroffene stürzt das in Verzweiflung.
Die Grafikdesignerin Vanessa Fuentes stammt aus El Salvador, der Anwalt Yesihak Filate ist Äthiopier, Rabeya Lisu und Krisnendu Mahalder kommen aus Bangladesh, sie hat in Dhaka ein Soziologiestudium abgeschlossen, er ist eigentlich Betriebswirt.
Alle vier eint, dass sie nach Schweden kamen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Fuentes als bekennende Lesbe wurde das Leben in San Salvador zur Hölle gemacht. Krisnendu Mahalder gehörte im muslimischen Bangladesh der hinduistischen Minderheit an. Und Yesihak Filate hat in Addis Abeba so lange Oppositionelle vor Gericht vertreten, bis er selbst bedroht wurde. Alle vier haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium und arbeiten jetzt in Schweden im Dienstleistungssektor. Und alle vier müssen wohl demnächst das Land verlassen.
Bislang mussten Arbeitsmigranten aus Ländern ausserhalb der EU mindestens 13’000 schwedische Kronen pro Monat verdienen, rund 1060 Franken, um hier leben zu dürfen. Vom 1. November an wird dieser Betrag angehoben auf 80 Prozent des Durchschnittsgehalts: Wer seine Arbeitserlaubnis verlängern möchte, muss nachweisen, mindestens 27’360 Kronen (ca. 2225 Franken) zu verdienen. Wer das nicht kann, verliert die Aufenthaltsberechtigung.
Die Ankündigung kam Ende Mai, «aber da haben wir noch gehofft, es gelte nur für Neuankömmlinge», sagt Vanessa Fuentes. Am 29. September gab die Migrationsministerin Maria Stenergard dann bekannt, nein, das gilt rückwirkend auch für all jene, die sich schon seit Jahren hier aufhalten.
Fuentes steht auf dem Stockholmer Mynttorget-Platz, die Work Permit Holders Association hat zu einer Demonstration aufgerufen, ein Verein, der seit 2010 Menschen aus aller Welt zusammenbringt, die hierzulande eine Arbeitserlaubnis erhalten haben. Ein eisiger Nachmittag, der Winter ist nicht mehr weit. Fuentes’ Mantel wird immer wieder aufgeweht wie ein Vorhang, was zu ihrer verzweifelten Wut passt.
Als sie vor acht Jahren El Salvador verliess, hätte sie die Möglichkeit gehabt, nach Kanada zu gehen, aber entschied sich für Schweden, das leuchtende Land der Menschenrechte und der gerechten Gesellschaft. «Jetzt sitze ich hier in der Falle», sagt sie. Sie würde so gerne mit ihrer schwedischen Lebensgefährtin eine Familie gründen, nach all den Jahren des Wartens und harten Arbeitens in der Gastronomie hätte sie in wenigen Wochen eine unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis erhalten. Jetzt hat sie Angst, mit ihrem Gehalt von 20’000 Kronen nach El Salvador abgeschoben zu werden.
Fuentes zeigt auf die umstehenden Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich vor dem Wind in ihren Jacken verkriechen. «Wir arbeiten alle hart, besuchen abends Sprachkurse, haben hier viel Geld in ein neues Leben investiert, befolgen peinlich genau alle Regeln und müssen dann einen Schritt vor dem Ziel merken, dass diese Regeln nicht mehr gelten.»
Neben ihr steht Rabeya Lisu mit einem Schild, auf dem steht: «Die Migrationsministerin: ‹Reinigungsarbeiten sollten an Menschen vergeben werden, die bereits in Schweden leben.› Wir leben bereits in Schweden!» Die konservative Regierung hatte im Wahlkampf versprochen, sich um die schwedischen Arbeitslosen zu kümmern. Die von Lisu zitierte Migrationsministerin Maria Stenergard schwärmte bei ihrer Ankündigung Ende September, dass es viele Schweden gebe, die dank der Reform frei werdende Arbeitsplätze annehmen könnten.
Rabeya Lisu sagt, sie habe in den vier Jahren, die sie bei einer Reinigungsfirma arbeite, drei Schwedinnen oder Schweden getroffen. «Alle anderen waren Ausländer.» Die Firma hat Lisu und allen anderen Beschäftigten geschrieben und Bedauern über die Pläne der Regierung geäussert. «Die wissen selbst nicht, wie sie uns ersetzen sollen», so Lisu, schliesslich seien 40 Prozent der Mitarbeiter von der neuen Regelung betroffen.
Der schwedische Verband der Gemeinden und Regionen warnte, die erhöhte Einkommensanforderung werde katastrophale Folgen für die Wohlfahrt haben, schliesslich steige selbst gut ausgebildetes Pflegepersonal meist auf einer niedrigen Gehaltsstufe ein. Visita, die Branchenorganisation des Gastgewerbes, wies darauf hin, dass es in Schweden bereits jetzt zu wenig Köche und Hotelpersonal gebe. Angesprochen auf Stenergards Argument, man brauche diese Jobs für Schweden, sagte Visita-Chef Jonas Siljhammar: «Keiner der Arbeitgeber, die ich vertrete, würde auf der anderen Seite der Welt nach Menschen suchen, wenn wir sie zu Hause fänden.»
Auch die beiden anderen Argumente der Regierung leuchten den Demonstranten auf dem Mynttorget nicht ein: Stenergard sagte, man wolle gegen den Schwarzmarkt vorgehen und die Arbeitgeber davon abhalten, ihre Angestellten zu schlecht zu bezahlen. Der Äthiopier Yesihak Filate verdient bei der Reinigungsfirma 21’000 Kronen, genau wie Lisu. Die Firma hat erklärt, sie könne unmöglich die Gehälter auf 27’000 Kronen heraufsetzen. «Zumal sie dann ja auch unsere Kollegen aus EU-Ländern besser bezahlen müssten», so der ehemalige Anwalt Filate.
Als die englischsprachige Website «The Local.se» kürzlich den Erfahrungsbericht einer Südamerikanerin veröffentlichte, schrieben daraufhin mehr als 200 Betroffene an das Nachrichtenmagazin. Alle sprachen von grosser Angst und Verzweiflung, alle fühlen sie sich betrogen um ihre besten Lebensjahre, weil man ihnen das Gefühl gegeben hatte, sich mit Fleiss und korrektem Verhalten ein dauerhaftes Bleiberecht erarbeiten zu können.
Lisu hat zwei Kinder, die in Schweden sozialisiert wurden und untereinander Schwedisch sprechen. In Bangladesh müssten sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter von null anfangen. Lisus Landsmann Krisnendu Mahalder erklärt, dass man in Bangladesh keinen sicheren Job mehr ergattern könne, wenn man über 30 sei. «Ich bin 33, meine Frau ist 32.» Und sie sind beide Hindu. Katastrophale Aussichten also, wenn sie in das mehrheitlich muslimische Heimatland zurückmüssten.
Rabeya Lisu sagt, sie könne nur noch mit starken Beruhigungsmitteln schlafen und habe enorm abgenommen. In dem Text auf «The Local» sprachen mehrere der 200 Betroffenen von Suizidgedanken. Viele sagen, ihnen bleibe nichts, als hier in Schweden abzutauchen – und dann schutz- und rechtlos zu genau den Schwarzmarktbedingungen im Niedriglohnsektor arbeiten zu müssen, den die Regierungsinitiative vorgibt, verhindern zu wollen.
Innerhalb der schwedischen Gesellschaft gibt es wenig Solidarität, vielleicht, weil das Land zurzeit genug mit sich selbst zu tun hat, Inflation und Bandenkriminalität, Koran-Verbrennungen und Fanatiker, die auf Schweden schiessen, nur weil sie gelb-blaue Trikots tragen.
Jedenfalls scheint wenig Mitleidreserve übrig zu sein für die etwa hundert Menschen, die hier am Mynttorget stehen und auf ein Wunder in letzter Minute hoffen. Das wird bis zum 1. November kaum noch eintreten. Im Gegenteil: Die Regierung hat angekündigt, dass für all die Menschen aus Nicht-EU-Ländern langfristig nicht nur 80, sondern 100 Prozent des Durchschnittslohns als Bleiberechtsbedingung gelten sollen.