July 27, 2024

«Hakkari, du bist so schön wie die Tulpen der Berge»: Recep Tayyip Erdogan trat, obwohl es nicht direkt um ihn geht, auch im Osten des Landes auf.

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Ganz weit im Osten denkt einer über die Demokratie nach. Was ist das eigentlich? «Du solltest alles sagen dürfen», sagt Abdülselam Alan, ein Koch, der Bürgermeister werden will. «Alles und überall. Und zu jedem. Kann ich das?» Er grinst. Rhetorische Frage. Jedenfalls kann er antreten. Er, der Kurde, der kaum je was mit Politik zu tun hatte. Eine Kandidatur bei den türkischen Kommunalwahlen, jetzt am Sonntag. «Die Leute verdienen eine Alternative», sagt Alan. Ihn. Er kandidiert für die CHP, der Republikanischen Volkspartei, fürs Rathaus der Kleinstadt Semdinli. Der östlichsten Stadt der Türkei.

Sieben Uhr abends, eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, jetzt hat er Zeit. Es ist Ramadan, keine Nahrung, nicht mal Wasser, solange die Sonne am Himmel steht. Aber dann, zum Abendgebet, zelebrieren sie es, den ersten Schluck, den ersten Bissen. Bei Alan zum Beispiel, dem Mann am Grill des «Sehr-i Zad», dem feinsten Restaurant im Ort. Einem, den sein dicker Schnauzbart gleich als Linken ausmacht. Kurze türkische Schnauzbartkunde: Erdogan-Fans tragen den Bart getrimmt, er darf die Oberlippe nicht berühren, die rechten Nationalisten lassen ihn um die Mundwinkel wachsen. Die Rasur ist politisch in diesem Land, selbst die.

Abdülselam Alan: Der Koch, der Mann am Grill, der Bürgermeister werden will.

Abdülselam Alan lässt Tee bringen und Datteln. Er mache sich keine Hoffnungen, sagt er, er werde nicht gewinnen. «Aufträge von der Regierungspartei im Ort kann ich wohl auch vergessen.» Also von Präsident Erdogans AKP. Als er auf Twitter den Bürgermeister kritisierte, habe sich einer von dessen Freunden gemeldet, erzählt Alan: Was das denn solle?

Und überhaupt, Semdinli, das Kurdendorf hinter den Bergen, vor wenigen Jahren noch Rückzugsort der PKK-Miliz, von Istanbul so weit entfernt wie Salzburg, eingeklemmt zwischen Iran und Irak – wieso sich darum kümmern?

Die CHP ist hier bedeutungslos, die Leute wählen Erdogans islamisch-konservative AKP oder die DEM, die neueste Partei der Kurden. Ihre alte, die HDP, steckt in einem Verbotsfahren. Nichts hätten sie ihm aus seiner Parteizentrale geschickt, sagt Abdülselam Alan, kein Geld für den Wahlkampf. Er zahle selbst. Und er werde verlieren. «Absolut sicher.» Also wozu das alles? «Weil man», sagt Alan, 40 Jahre alt, «irgendwann die Angst ablegen muss.»

Von der Türkei kursiert ein Klischee, das geht so: Im Westen, in Istanbul, in Izmir, da sind die Leute – wie soll man es nennen: westlich? Da wählen sie die Opposition. Aber im Osten? Dort wird es einfach und fromm. Tja, fromm? Sicher. Einfach? Mal sehen.

Der Weg zu Alan, dem chancenlosen Demokraten, beginnt mit dem Flieger von Istanbul nach Hakkari. Winziger Flughafen im Gebirge, vorm Terminal stehen gepanzerte Wagen. Nachher wird Recep Tayyip Erdogan hier erwartet, er tourt durch die Republik, als ginge es bei den Kommunalwahlen um ihn, manche nennen ihn schon den Bürgermeister der Türkei.

Hier in, Semdinli, dem letzten Tal der Türkei, reden sie viel über die Demokratie. Manche mit Siegesgewissheit, andere, betonen sie wollten die «Angst ablegen».

Nach Semdinli führt eine Landstraße, so einsam, als wäre um die nächste Kurve mit dem Ende der Welt zu rechnen. Stattdessen ein Militärposten, ist nicht lange her, dass hier Krieg war, die türkische Armee gegen die PKK. Heute bekämpfen sie sich auf irakischem Boden, ein paar Kilometer weiter südlich. Und hier, im letzten Tal der Türkei? Wird die Macht jetzt an der Wahlurne gewonnen statt mit Waffen?

Es fahren Lautsprecherwagen der Parteien über die einzige Hauptstraße im Ort, am schlammigen Schnee vorbei, und spielen Lieder. Nicht nur Bärte und Politik gehören zusammen in der Türkei, auch Musik. Und Semdinli hört sich nach Demokratie an. Auch drinnen, in den Büros der anderen Parteien, von AKP und DEM, sitzen die Menschen und reden. Über Erdogan, über die Lage im Ort. Sie reden als könnten sie alles sagen. «Stimmt», sagt Abdülselam Alan. «Nur nicht überall.»

Semdinli, das Kurdendorf hinter den Bergen, war vor wenigen Jahren noch Rückzugsort der PKK-Miliz.

Erdogan regiert fast so lang wie Putin, er regiert autoritär, trotzdem muss er, anders als Putin, um Stimmen werben. Kompliziertes Land, die Türkei. Demokratie? Autokratie? Alan, der Koch, erzählt, man könne die Opposition wählen, nur besser nicht darüber reden. «Jeder denkt, vielleicht brauche ich die Regierungspartei noch.» So sagen sie, wenn sie die AKP meinen. «Du wählst, von wem du dir etwas erhoffst.» Das Geld kommt von der Regierung, neue Straßen, neue Schulen, Erdogan lässt bauen, auch hier im Osten.

Und die DEM, die Partei für die Rechte des kurdischen Volkes, der Minderheit in der Türkei? Sie verspricht Schutz vor dem Staat und seiner Macht. Hat mit Würde zu tun, sie zu wählen. Vielleicht auch mit Trotz.

Ihm sei die DEM zu betont kurdisch, sagt Alan. «Und mit der AKP kann man nicht reden.» Also sah er sich die CHP an, früher eine Partei von Kurdenhassern. Was sagt er dazu? «Man muss die Erinnerungen hinter sich lassen.» Er habe das linke Wirtschaftsprogramm gemocht. Ein Demokrat also, der kurz vor der iranischen Grenze an Wahlen glaubt. Es werde spannend am Sonntag, sagt er, in Istanbul, auch anderswo. Wenn es der Präsident nicht schaffe, der Opposition das Rathaus von Istanbul zu nehmen, «dann hält er nicht mehr bis 2028 durch». Bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen.

In Hakkari, zwei Autostunden von Semdinli, steht Erdogan am Abend auf der Bühne. «Hakkari», ruft er, «du bist so schön wie die Tulpen der Berge.» Und dann sagt er immer wieder ein Wort: Demokratie. Die Opposition habe alles getan, «um uns von unserem Kampf für die Demokratie abzubringen. Sie wollten nicht, dass die Demokratie siegt». Erdogan weiß, was sein Volk hören will. Am Ende holt er Fahri Sakar auf die Bühne, den AKP-Kandidaten fürs Rathaus von Semdinli. Sakar läuft auf Erdogan zu, verneigt sich, küsst dem Präsidenten die Hand. Anderntags, zurück in Semdinli, sagt Sakar, er ist Kurde wie Alan: Nein, er fühle sich nicht unterdrückt. Er fühle sich frei.

Fahri Sakar (rechts), AKP: „Der Vizepräsident ist Kurde, der Finanzminister ist Kurde. Das soll Unterdrückung sein?“

Er, der Bürgermeister werden will, sitzt neben dem Amtsinhaber im AKP-Büro. Sakar lächelt, er sieht aus, als wäre er mit sich im Reinen. Er sagt: «Der Vizepräsident ist Kurde, der Finanzminister ist Kurde. Das soll Unterdrückung sein?» Der Hügel nebenan, von dort habe die PKK früher in den Ort geschossen. Und heute? Eine Picknickwiese, ein Spielplatz. «Haben wir gebaut», sagt jetzt der Bürgermeister. Sakar sagt, «die anderen», damit meint er die DEM, «sind immer nur negativ. Die reden von Unterdrückung. Wir bringen den Ort voran.»

Letzter Termin, diesmal mit den «Terroristen». So nennt Erdogan sie, der seinen Gegnern unterstellt, sie seien der politische Arm der PKK. «Der Lügner», sagt einer, Hasan. Die alte Regel: Stellst du dich gegen die Regierung, sag nur den Vornamen. «Wer nicht zu ihnen gehört, ist Terrorist.» Sie, das sind Erdogans Parteifreunde in der AKP. Hasan sitzt mit ein paar anderen im Büro der DEM, keine hundert Meter vom AKP-Gebäude entfernt. Er kennt Fahri Sakar, er ist ein Nachbar, sie haben denselben Krieg erlebt, nur sprach Sakar über die Verbrechen der PKK, hier reden sie nur über die Gewalt des Staates.

Es kann sein, dass die Regierung dem DEM-Kandidaten, sollte er Bürgermeister werden, den Posten gleich wieder entzieht. Wegen angeblicher Verbindungen zur PKK. So hat sie es in den kurdischen Gebieten oft getan. Demokratie? Die einen glauben daran. Die anderen möchten den Glauben nicht aufgeben. Für Demokraten halten sie sich alle.

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