September 8, 2024

Applaus für den Chef: 2900 Delegierte jubeln in der Grossen Halle des Volkes ihrem unbestrittenen Führer zu.

Cao Chen hat in den vergangenen Tagen viele Nachrichten aus ihrer Heimat Hangzhou bekommen. «Unsere Bewohner haben mich im Fernsehen gesehen», erzählt die Abgeordnete des chinesischen Volkskongresses in einem telefonischen Interview. Eigentlich trete sie nicht so gerne in den Medien auf. «Ich empfinde das als Druck.» Doch habe sie mittlerweile akzeptiert, dass das Teil ihrer «Mission» sei: «Ich möchte die familiäre Atmosphäre der gegenseitigen Hilfe in unserer Gemeinschaft nach aussen tragen.»

Cao ist eine von gut 2900 Delegierten aus ganz China, die zur jährlichen Sitzung des Volkskongresses, des Scheinparlaments, in die Grosse Halle des Volkes in Peking gekommen sind. Dieses Jahr fand das einwöchige Treffen erstmals wieder ohne strenge Corona-Massnahmen statt.

Als Stadtteil-Parteisekretärin soll Cao die Basis der KP in ihrer Heimatprovinz Zhejiang repräsentieren. Andere Delegierte repräsentieren bestimmte Berufsgruppen wie zum Beispiel Militär oder Unternehmer. Wieder andere gehören ethnischen Minderheiten wie Tibetern und Uiguren an, zu erkennen an ihren farbenfrohen Trachten. Nur jede Vierte ist eine Frau.

Im richtigen Moment klatschen

Es ist erst Caos zweites Plenum. Zu den Hauptaufgaben der Delegierten auf dem Kongress gehört, die Arbeitsberichte der verschiedenen Regierungsgremien abzunicken und im richtigen Moment zu klatschen. Sie dürfen aber auch eigene Vorschläge einbringen. Cao etwa hat vergangenes Jahr einen Vorschlag zur besseren Versorgung von Senioren gemacht und dieses Jahr zur lokalen Selbstverwaltung. Als Basis-Vertreterin habe sie einen engen Draht zu den Menschen am Ort und könne somit «Daten und Meinungen aus erster Hand» auf die nationale Bühne bringen.

Es ist in China eine grosse Ehre, im Volkskongress sitzen zu dürfen – Hauptdarsteller ist dort aber nur einer: Caos Delegiertenkollege Xi Jinping, der offiziell die Provinz Jiangsu vertritt, aber eben auch Staats- und Parteichef ist. Wie sehr er nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht das Geschehen dominiert, zeigt sich etwa im jährlichen Arbeitsbericht des Regierungschefs Li Qiang, der den Namen seines Chefs und Förderers diesmal gleich 16 Mal erwähnt – Rekord.

Aus ebenjenem Dokument versuchen Beamte und Beobachter die Prioritäten der Regierung für das laufende Jahr herauszulesen. Dabei hat Li sich mit 50 Minuten Redezeit so kurz gefasst wie keiner seiner Vorgänger in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

29 Mal das Wort «Sicherheit»

Man kann die Prioritäten des 31-seitigen Berichts schon an der Wortwahl ablesen: So hat Li 25 Mal den Slogan «hochqualitative Entwicklung» erwähnt, ebenfalls Rekord. Damit ist gemeint, dass die Wirtschaft nicht mehr exponentiell auf Kosten von Umwelt und bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Arbeitsmigranten wachsen soll.

Stattdessen soll sie sich nachhaltiger entwickeln, ohne die Ungleichheit oder Staatsverschuldung weiter zu verschlimmern. Dann hat Li aber auch so oft wie nie zuvor, nämlich 29 Mal, das Wort «Sicherheit» erwähnt. Das lässt sich als Vorbereitung auf kommende innen- und aussenpolitische Konflikte deuten, rund um Taiwan oder im Südchinesischen Meer etwa, wo China seine territorialen Ansprüche immer stärker mit militärischer Präsenz verdeutlicht.

Ja, und auf Sicherheit wird auch beim Volkskongress in Peking viel Wert gelegt. Das bekam etwa eine Reporterin der Zeitung «Ming Pao» aus Hongkong zu spüren. Als sie durch die Kontrolle am Eingang zur Grossen Halle lief, schlug die Gesichtserkennung Alarm, wie sie berichtete. Ein Wachmann habe sie gefragt, ob sie schon einmal Aktien des insolventen Immobilienkonzerns Evergrande gekauft oder eine Petition beim Beschwerdebüro abgegeben habe. Als sie verneinte und ein Check ihrer Dokumente zeigte, dass sie nicht die verdächtige Person ist, durfte sie weiter.

Xi schweigt und herrscht

Offenbar hatte das System sie verwechselt. Aber der Vorfall zeigt, dass der Volkskongress eben eine grosse Show ist und der Machtapparat verhindern will, dass Unzufriedene ihn für Proteste nutzen, wie es in vergangenen Jahren immer mal passiert war. Angesichts der andauernden Krise auf dem Immobilienmarkt, die die Ersparnisse der Mittelschicht gefährdet, gibt es viele Unzufriedene im Land.

Xi selbst verbrachte die Plenumssitzungen des Kongresses meist schweigend. In Treffen mit einzelnen Delegiertengruppen ergriff er aber öffentlich das Wort. So rief er Vertreter aus Jiangsu sowie die Streitkräfte dazu auf, mehr in Hochtechnologie zu investieren. China möchte sich angesichts zunehmender US-Sanktionen unabhängig machen von westlichen Technologien wie etwa Computerchips. Zudem verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Forschung.

Militärausgaben stark erhöht

So ist ein Zuwachs bei den Militärausgaben von offiziell 7,2 Prozent dieses Jahr zwar schon stärker als das ambitionierte Wachstumsziel für das Bruttoinlandprodukt von rund fünf Prozent – die Zahl bildet aber Experten zufolge trotzdem nur einen Teil der gesamten Verteidigungsausgaben ab. Dass in den vergangenen Monaten zahlreiche Spitzenmilitärs inklusive des Verteidigungsministers ihre Posten wegen Korruptionsvorwürfen räumen mussten, zeigt jedoch auch, dass nicht jeder Yuan sinnvoll ausgegeben wird.

Doch trotz der offensichtlichen Probleme in Wirtschaft und Partei sieht die Delegierte Cao das Land unter der Führung Xis in den richtigen Händen: «Die Zukunft wird zweifelsohne gut», sagt sie. Alles andere könnte auch gefährlich werden.

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