Der Missbrauch von Drogen in der russischen Armee nimmt zu. Dorfbewohner in besetzten Gebieten sollen den Stoff teilweise direkt an die Front liefern.
Heroin, Amphetamine, Mephedron: Der Konsum von harten Drogen ist an der Front unter russischen Soldaten weitverbreitet. Das berichtet das russische unabhängige Medium «Verstka» in einer Reportage, in der Dutzende von Soldaten, Drogenkonsumenten und Anwohnern in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten zu Wort kommen. «Tausende russische Militärangehörige konsumieren Drogen, sowohl im Hinterland als auch an der Front», kommt die Onlinezeitung zum Schluss.
Ein russischer Soldat, der an der Front in der Nähe der ukrainischen Stadt Swatowo stationiert ist, erzählte gegenüber «Verstka» von offenem Drogenkonsum: Da die Unterstände an der Front klein seien, bekomme jeder davon mit, wenn in den Schützengräben Drogen genommen werden. «Das interessiert niemanden, die Hauptsache ist, dass man niemanden stört», so der Soldat, der selber auch Drogen konsumiert.
Viele würden aus Langeweile Drogen nehmen, erzählt er weiter: «Krieg ist, wenn man ständig auf etwas wartet und oft dafür betet, dass es endlich vorbei ist. Als ich im Unterstand Salz geraucht habe, war mir das alles scheissegal.» «Salz» ist laut «Verstka» eine umgangssprachliche Bezeichnung für die synthetische Droge Alpha-PVP, die ähnliche Wirkungen hat wie Kokain.
«Sehr starkes Heroin»
An der Front und in den umliegenden Gebieten seien vor allem Amphetamine, Mephedron und «Salz» verbreitet, berichtet «Verstka». Seit Juli 2022 werde auch «sehr starkes Heroin» in die Region Cherson gebracht, erklärte ein lokaler Drogenkonsument gegenüber dem Onlinemedium: «Die Leute starben daran. Es gab eine Menge solcher Vorfälle. Soldaten und unsere Anwohner wurden durch Chemikalien vergiftet, starben fast auf der Stelle wegen des Stoffs.»
Viele Soldaten konsumieren laut «Verstka» auch «Medikamente zur Entspannung». Starke Arzneimittel würden ohne Rezept verkauft, vor allem sedativ wirkende Barbiturate, erzählte ein Anwohner von Luhansk gegenüber «Verstka».
«Es gibt eine Menge Barbiturate. Ich habe sie sogar selbst genommen. Jeder zweite oder dritte Soldat nimmt welche», so ein Vertragssoldat. Auch andere Medikamente werden häufig konsumiert, wie etwa Lyrica, das zur Behandlung von Angststörungen verwendet wird. An der Front habe die Pille den gleichen Stellenwert wie Wein und Bier, erzählte der Soldat, der sich nach mehreren Monaten an der Front nun in einer Militäreinheit auf russischem Territorium befindet.
Die meisten der befragten Personen berichten, dass es in den besetzten Gebieten und an der Front leicht sei, an Drogen heranzukommen. «Es ist wie in Las Vegas», erklärt ein Soldat. Gemäss den Quellen von«Verstka» liefern einige Anwohner die Drogen für viel Geld sogar direkt in die Schützengräben. Anderen Quellen zufolge erhalten Armeemitglieder die Drogen von anderen Soldaten, prorussischen Freiwilligen oder bringen sie selbst mit.
Wer erwischt wird, muss in die Einheit «Sturm»
An der Front werden laut einem in Luhansk stationierten Soldaten praktisch nie Drogenkontrollen durchgeführt. «Es gibt Einheiten, in denen es ein strenges Verbotsgesetz gibt, da kann man schon für übermässigen Alkoholkonsum Ärger bekommen. Bei der Wagner-Truppe war anscheinend alles sehr streng, aber bei den Sturmtruppen hat niemand kontrolliert.»
Selbst als man bei einem Kameraden Injektionsspuren an den Beinen gefunden hatte, habe man den Rest der Einheit nicht kontrolliert, sagte ein anderer Vertragssoldat in der Nähe von Cherson gegenüber dem Onlinemedium. «Im Allgemeinen interessiert das hier niemanden. Aber wenn man erwischt wird, dann hat man ein Schicksal – ein Strafbataillon, die Einheit ‹Sturm›.»
«Sturm» wird laut «Verstka» als «ein Bataillon für Versager» bezeichnet, in das Soldaten geschickt werden, wenn sie «betrunken sind, sich prügeln, randalieren – alles, wofür Zivilisten ins Gefängnis kommen würden». Dort seien die Soldaten an der Front und geraten unter Beschuss. 95 Prozent von ihnen seien «zum Tode verurteilt», sagte ein Soldat. Das mache den Drogenkonsum an der Front praktisch zu einem Todesurteil.
Drogen zur Betäubung von Belastungsstörungen
Radio Free Europe (RFE) berichtete bereits im vergangenen Juni, dass der Konsum von illegalen Substanzen innerhalb des russischen Militärs zunehme. Die Zahl der Fälle von Drogenmissbrauch, die vor russischen Militärgerichten verhandelt werden, zeige «eine steigende Tendenz», so RFE nach einer Untersuchung von Akten mehrerer Gerichte im Südwesten Russlands. Ob der Effekt in Relation zu der seit Beginn des Krieges gestiegenen Anzahl an Soldaten steht, konnte RFE nicht sagen.