July 27, 2024

Nobelpreisträger Iwan Pawlow und die russische Akademie für Medizin, St. Petersburg, wo er seine Reflextheorie an einem Hund vorführt.

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Man kann es sich einfach merken: «Gesund war, wer gerne in der sozialistischen Gesellschaft lebte. Ansonsten war man abnormal, krank, behandlungsbedürftig.» Das schreibt der Schweizer Historiker Andreas Petersen an einer Stelle seines neuen Buchs «Der Osten und das Unbewusste», um es auf den übrigen 350 Seiten auszuführen: wie brutal das sowjetische System gegen Psychotherapeutinnen und Psychoanalytiker vorging. Die meisten von ihnen wurden umgebracht, verkamen in Zwangslagern, versuchten, sich vergeblich anzupassen, emigrierten oder nahmen sich das Leben. Andere wurden unter der Folter zu Scheingeständnissen gezwungen und öffentlich gedemütigt. 

Schon 1930 wurde die Psychoanalyse in der UdSSR verboten, und es sollte über 60 Jahre dauern, bis sie wieder praktiziert werden durfte. Joseph Stalin hasste Sigmund Freuds Behandlungsmethode und zog die rigoristischen Lehren von Iwan Pawlow vor, dem russischen Neurologen, der die Konditionierung als Auslöser von Reflexen nachweisen konnte. Und der nichts von Introspektion, Gefühlsregungen oder Fantasie hielt, weil für ihn der Mensch eine Maschine war. So sah ihn auch Stalin. Er wollte einen neuen Menschentyp erschaffen, eine Art stählerner Parteisoldat, ein Zuchtobjekt für den sozialistischen Staat. 

Der Hass der Kommunistischen Partei auf die Psychoanalyse hatte eine Menge mit der Erkenntnis von Sigmund Freud zu tun, wonach die Sexualität den Menschen in vielem bestimmt. Aron Salkind, Vizepräsident der psychiatrischen Klinik von Moskau, verurteilte diese Ansicht als zersetzend für den sowjetischen Körper. Er kritisierte die Sexualität als energieraubend für den russischen Arbeiter und empfahl ihm, möglichst wenig Sex zu haben.

Ziel eines neuen Staates müsse es sein, schrieb der kommunistische Psychiater, dass das Kollektiv mehr Anziehungskraft als der Liebespartner habe und dieser nach revolutionär-proletarischer Zweckmässigkeit erfolgen müsse. Dem Juden Sigmund Freud warf er präfaschistisches Denken vor. Und so wurde die Psychoanalyse in Russland auch diffamiert: als bürgerlichen Bund zwischen Juden und der Hochfinanz auf dem Weg in den Faschismus.

Der Hass galt dem Juden Freud noch mehr als dem Analytiker. Wie Andreas Petersen in seinem sorgfältig recherchierten, elegant geschriebenen Buch nachweist, lag der Ablehnung der Psychoanalyse ein antisemitischer Hass zugrunde, waren doch die meisten Analytiker und die ganz wenigen Analytikerinnen jüdisch, gerade in Russland.

Freud und seine Schüler hatten die Antithese zum russischen Idealtyp formuliert: Sigmund Freud um 1932 neben seiner berühmten Couch.

Ausserdem war es Sigmund Freud um das Gegenteil einer kollektiven, der Partei unterworfenen Figur gegangen. Freud wollte keine seelenlosen Maschinenmenschen produzieren, sondern Individuen helfen, ein Bewusstsein von sich selber zu entwickeln. Damit hatten Freud und seine Schüler die Antithese zum russischen Idealtyp formuliert. Zu Recht hebt Petersen in diesem Zusammenhang die Verdienste von Alfred Adler hervor, der im Gegensatz zu Freud sozialdemokratisch dachte, auch aus politischen Gründen mit Freud brach und sich für das Wohl der Armen und vor allem auch der Kinder engagierte.

Auch in den sowjetischen Satellitenstaaten kam es oft einem Todesurteil gleich, sich mit Psychoanalyse zu beschäftigen. Polen litt unter dem Terror der Faschisten und dann dem Terror der Kommunisten, und wie in anderen Ländern sorgten beide dafür, so viele Intellektuelle umzubringen wie möglich, um keine neue Elite entstehen zu lassen.

In Rumänien, ebenfalls von den Faschisten und Kommunisten unterdrückt,  kam 1955 Ceausescu an die Macht und regierte das Land mithilfe der Securitate, seiner allmächtigen Geheimpolizei. Der rumänische Psychiater Ion Viano hatte eine Klinik besucht, in welcher die Geheimpolizei Dissidenten als psychisch Kranke verwahrte. Viano kam sie vor wie «ein Abgrund aus Dantes Hölle», woraus er schloss: «Hier konnte es sich nur um die absichtsvolle Vernichtung dieser Menschen handeln.»  

In Ungarn, Bulgarien und den baltischen Staaten ging die Rote Armee mit grosser Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung und die Psychotherapeuten vor. Wer sich hier gegen alle staatliche Willkür für die eigene Psyche interessiert habe, schreibt Andreas Petersen, «stiess in den Familiengeschichten unweigerlich auf Verhaftung, Verschleppung, Umsiedlung, Erschiessungen – und dies nicht nur in den Kriegsjahren». Einzig Jugoslawien schlug unter Tito einen antistalinistischen Kurs ein, quälte dafür die Stalin-Anhänger in unmenschlichen Gefängnissen. 

Deutschland ertrinkt in der Therapeutenschwemme

Als Historiker interessiert Andreas Petersen sich besonders dafür, wie sich die Psychotherapie in der BRD und der DDR entwickelte, denn so kann er zwei politische Systeme desselben Landes vergleichen. Man kann es so sagen:  Was die einen zu wenig hatten, bekamen die anderen im Übermass verpasst.

Was uns Petersen aus den grauen Jahrzehnten der DDR berichtet, war dazu geeignet, jeden Gesunden psychisch krank zu machen. Klaustrophobie und Paranoia dominierten die Mentalität des Überwachungsstaates, der in sich selber eingeschlossen hatte. In Berlin bezeichnete man das als «Mauer-Krankheit».

Jedenfalls konnten die Patienten nie sicher sein, ob abgehört wurde, was sie ihrer Psychiaterin erzählten. Damit wurde eine Vertrauensbeziehung verunmöglicht, erste Voraussetzung einer Therapie. Alles ging von der Partei aus, und jeder Arzt, jede Psychiaterin musste mitmachen, sonst drohte mindestens ein Berufsverbot. Letzten Endes wurde die Psychiatrie in der DDR immer als eine verdächtige Wissenschaft angesehen.

In der BRD geschah das Umgekehrte, das konnte man vor allem in den Siebzigerjahren beobachten. Denn in Westdeutschland etablierte sich abseits der seriös arbeitenden Psychoanalyse und von anderen sorgfältigen Therapiemethoden eine riesige Behandlungsindustrie nach amerikanischer Vorlage. Diese reichte von Yoga bis zu Meditation, von den indianisch inspirierten Tanzritualen zum seligen Trommeln bei Vollmond, vom Urschrei zum Autogenen Training. Selbst ernannte Heilerinnen indoktrinierten die Verzweifelten, Sektenführer dominierten ihre Gemeinden.

In diesen Jahren wollten alle über ihre Gefühle reden. WGs verbrachten Konfliktabende am Küchentisch, Paare zerredeten ihre Beziehung bis zur Erschöpfung, Beraterinnen ohne Ausbildung machten riesige Gewinne. Selbst die Männer hatten, wie Herbert Grönemeyer boshaft anmerkte, «vom Streicheln ganz aufgeweichte Hände». 

Aufklärungshilfe gegen den Faschismus

Dabei war der Anlass für die Psychologisierung der Gesellschaft gerade in Deutschland nachvollziehbar: Die Achtundsechziger wollten von ihren Vätern wissen, was diese im Krieg gemacht hatten. Denn die Tätergeneration hatte die Kriegsjahre ausgeschwiegen und sich in das Wirtschaftswunder der Fünfziger gerettet.

Einer der Ersten, der dieses Stummsein hinterfragte, war der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Er glaubte daran, dass die Psychoanalyse helfen könnte, gegen das deutsche Verdrängen und Verleugnen anzugehen. Mitscherlich und andere seien überzeugt gewesen, schreibt Petersen, dass Psychoanalyse und Psychotherapie «als befreiende gesellschaftliche Instanzen mit emanzipatorischen Ressourcen» verstanden wurden. Die Analyse als Aufklärung.

Damit wurde die Analyse, wie der Philosoph Klaus Theweleit in seinen «Männerphantasien» ausführte, zu einer Deutungsmacht gegen den Faschismus. Dass die Psychoanalyse mit ihrem Anspruch der Sorgfalt von einer pseudotherapeutischen Welle der Irrationalität überschwemmt wurde, muss man als bittere dialektische Ironie hinnehmen.

Zumal Petersen skeptisch bleibt, was diese kollektive Psychologisierung der Beziehungen dem Einzelnen gebracht hat: «So oft auch Psychologisches thematisiert wurde, es blieb unausgefüllt», bilanziert er. Und zitiert den amerikanischen Philosophen Richard Sennett, der die Siebzigerjahre als «Tyrannei der Intimität» beschrieb. Selbstverwirklichung als Leistungsdiktat.

Wie harmlos sich die therapeutische Schwemme des Westens gegen den Vernichtungsterror des Ostens ausnahm, ist für Petersen trotzdem klar. Obwohl Flüchtlinge und Emigranten in den USA, der Schweiz oder Deutschland immer wieder von den furchtbaren Verhältnissen ihrer Heimatländer erzählten, obwohl sie schon Freud in Briefen erwähnte, lenkte der Zweite Weltkrieg alle ab, zumal sich 1953, nach dem Tode Stalins, eine vorübergehende leichte Entspannung ergab. Die hielt aber nicht lange an, und bis heute haben sich Psychotherapie und Psychoanalyse im Osten nicht so entwickeln können wie in den westlichen Ländern.

Heute ist mehr möglich

Immerhin hat sich ihre Lage in Russland selbst entschieden verbessert. Das sagt der Zürcher Psychoanalytiker Markus Fäh, der in mehreren russischen Städten psychoanalytische Weiterbildung betrieben hat und seit 2001 oft mehrmals pro Jahr nach Russland reiste. Der Krieg habe diesen Austausch unterbrochen, sagt er.

Zuvor hatte Fäh mit seinen Vorträgen, Workshops und Fallanalysen bei den russischen Fachleuten grosses Interesse an der Psychoanalyse wahrgenommen. «Diese wird in Putins Russland nicht gefördert, aber auch nicht behindert», sagt er. Diesen neuen Umgang mit der so lange verfemten Behandlungsmethode führt er auf ein Dekret von Boris Jelzin zurück. Der russische Präsident hatte die Psychoanalyse 1996 rehabilitiert und nannte sie sogar eine förderungswürdige Wissenschaft.

Diese Anerkennung der Analyse als therapeutische Behandlung, sagt Markus Fäh, «löste bei den russischen Therapeuten Begeisterung aus». Und diese halte in Russland bis heute an. Zuletzt zitiert der Schweizer den berühmt gewordenen Satz des russischen Psychologen Alexander Etkind: Die Russen sähen in der Dämmerung, schrieb er, was andere nicht einmal bei Tageslicht zu betrachten wagten. Dieses Sehen hätte Sigmund Freud gefallen.

Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. Berlin: Klett-Cotta, 2024.

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@jemab

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