Das Echo auf unsere Umfrage ist eindeutig: Viele Menschen sind überfordert angesichts der aktuellen Nachrichtenlage. Aber wie geht gesunder Medienkonsum?
Als Redaktion befragen wir unsere Leserschaft regelmässig zu ihren Erfahrungen und Haltungen in bestimmten Fragen. Selten waren die Rückmeldungen so zahlreich und emotional wie dieses Mal. Wir wollten wissen: Was machen die News und Bilder aus Israel mit Ihnen? Wie gehen Sie mit dem nicht abreissenden Strom an schlechten Nachrichten um?
Das Echo ist eindeutig: Selbst viele Menschen, die die News sonst gern und intensiv verfolgen, fühlen sich überfordert durch die aktuelle Nachrichtenlage. Für Medienpsychologe Daniel Süss ist das keine Überraschung. Er sagt: «Die Gewalteskalation in Nahost ereignet sich zu einem Zeitpunkt, zu dem ein grosser Teil der Gesellschaft bereits überdurchschnittlich besorgt und belastet ist durch negative Nachrichten.»
«Es gibt Menschen, die dadurch an eine Belastungsgrenze kommen.»
Nach der Pandemie, neben dem Ukraine-Krieg und den Gefahren des Klimawandels sei das Leid der Menschen in Israel und Palästina für manche kaum verkraftbar. «Es gibt Menschen, die dadurch an eine Belastungsgrenze kommen.»
Wie die Betroffenen reagieren, ist individuell unterschiedlich. Während sich manche intensiv mit dem Thema auseinandersetzen und kaum abschalten können, wählen andere den kompletten Newsverzicht.
Wir wollen im Folgenden unsere Leserinnen und Leser zu Wort kommen lassen – und anschliessend mit Medienpsychologe Süss analysieren, welche Strategien hilfreich sein können, um mit der aktuellen Situation umzugehen. Die folgenden Statements erreichten uns per Mail, sind teilweise gekürzt und leicht redigiert.
Im Schock
Insbesondere in den sozialen Medien sind manche Personen auf regelrechte Schockbilder gestossen. Ein Leser schildert, wie er abends im Bett noch durch Instagram-Stories swipte, als er inmitten von Haustierfotos, Veranstaltungstipps und Wahlempfehlungen auf ein Video stiess, das er seither nicht mehr vergessen kann. Der grausame Inhalt soll hier nicht wiedergegeben werden.
«Ich lag die ganze Nacht wach. Ich grübelte darüber nach, was dieses Video mit mir machte. Das bewegte Bild, die Art, wie es gefilmt war… Damit war ich komplett überfordert. Ich wusste sofort: Diese Eindrücke werde ich nie mehr aus meinem Kopf bekommen. Ich wünschte mir, ich hätte dieses Video nie gesehen.»
Eine 64-jährige Frau schreibt, sie gehöre zur Generation, die dachte, die Menschheit habe aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt.
«Als die Nachricht des terroristischen Angriffs auf Israel und auf die jungen Menschen des Rave-Festivals kam, bin ich in Tränen ausgebrochen und habe den Artikel geschlossen. Ich konnte ihn nicht fertig lesen.
Es ist die Angst vor der Zukunft, die mich vielleicht auch weinen lässt. Da geht es nicht um mich, sondern um die Generation, die nachkommt und mit dieser Welt klarkommen und etwas verändern muss.»
Ein 39-jähriger Israeli, der seit einigen Jahren in der Schweiz lebt, hat sich ebenfalls gemeldet.
«Die aktuelle Lage hat bei mir eine akute Belastungsstörung ausgelöst. Es gab seit dem 7. Oktober keinen Tag, an dem ich nicht mehrmals in Tränen ausgebrochen bin. Ich informiere mich fast ausschliesslich über israelische Medien und das israelische Fernsehen, denn ich weiss, sie werden nicht zu viele Details von den Gräueltaten bekannt geben.
Ich bin emotional noch nicht dafür bereit, alles zu erfahren. Soziale Netzwerke vermeide ich komplett, denn ich will mich Horrorvideos, die dort wohl kursieren, nicht versehentlich aussetzen.»
Eine 59-jährige Pflegefachfrau schildert, wie sie die Gewalteskalation im Nahen Osten in ihren Träumen verfolgt:
«Mir wurde schnell klar, dass ich aufpassen muss, was ich anschaue oder lese. Ich habe bewusst Bilder vermieden. Aber Beschreibungen und Berichte aus dem Krisengebiet machen, dass ich Nacht für Nacht von diesem Krieg träume, Angst, Anspannung und Ohnmacht fühle. Es geht mir so nahe, weil ich mir so gut vorstellen kann, dass meine Töchter an dieser Party hätten sein können.
Ich kann mich schlecht distanzieren, meine Gedanken und Gefühle sind wie fremdbestimmt. Ich wünsche mir, dass ich eine Nachricht lese, die alles auflöst. Es tut mir gut, dies alles zu schreiben. Danke für Ihre Frage.»
Lieber offline
Für manche sind die Bilder und Nachrichten aus Israel so belastend, dass sie ihren Newskonsum stark einschränken oder gar komplett auf Medien verzichten. Eine Frau aus Winterthur schreibt:
«Ich habe aufgehört, diese Nachrichten zu verfolgen. Die ganze Welt, überall die Kriege, das Klima – es macht mich fertig, und es macht meine Kinder fertig, die schon gar keine Kinder mehr in diese Welt setzen wollen.»
Ein anderer Leser berichtet:
«Ich entziehe mich der Informationsflut über all das Elend und reduziere meinen Medienkonsum in diesen Bereichen. Bleibe beim Sport und bei Schweiz-Themen.»
Sich gezielt informieren
Am häufigsten sind Rückmeldungen von Menschen, die zwar informiert bleiben, sich aber nicht alles zumuten wollen. Eine Mutter dreier schulpflichtiger Kinder schreibt:
«Wir sind eine politisch interessierte und diskussionsfreudige Familie, wir hören oft Radio. Die Kinder fragen nach, wenn sie etwas nicht verstehen, wir erklären ihnen, was passiert ist oder worum es gerade geht. Aktuell läuft bei uns das Radio nicht mehr, stattdessen hören wir Hörspiele.
«Seit längerem schon merke ich, dass ich mich schützen muss gegen die Nachrichtenflut.»
Ich bin eigentlich eine nüchterne Person, aber nun frage ich mich, in welche Welt ich meine Kinder geboren habe und wie ich ihnen das alles erklären soll. Die Hilflosigkeit ob all der Geschehnisse ist schwer zu ertragen und noch schwerer zu erklären. Keine Medien mehr zu konsumieren, wäre für mich aber keine Lösung. Ich informiere mich hauptsächlich über den Tagi und die ‹Tagesschau› von SRF, Bilder werden in beiden Medien stark gefiltert.»
Eine 39-jährige Luzernerin versucht, bewegte Bilder zu vermeiden:
«Die Texte und Bilder machen mich sehr traurig und nachdenklich. Wenn ich am Abend News lese, träume ich leider davon. Seit dem Beginn der Krise in Israel und Palästina lese ich ein- bis zweimal auf der Tagi-App explizit News dazu. Ich versuche den Konsum auf einmal pro Tag zu beschränken, was jedoch nicht immer gelingt. Die Kommentare der Leser*innen meide ich. Selten schaue ich die ‹Tagesschau› auf SRF. Bewegte Bilder ertrage ich weniger.»
Ein 40-jähriger Abonnent löscht zum Selbstschutz Apps:
«Mir geht es schlecht im Moment. Ich bin eigentlich süchtig nach News. Lese alles in der App. Diese ultraschlimmen negativen Ereignisse ziehen einen in ihren Bann. Deshalb konnte ich zu Israel zuerst etwa drei Tage lang nur ausgewählte Berichte öffnen und lesen. Bildern aus Israel bin ich bis jetzt konsequent ausgewichen. Ich kann diese in Textform schon nicht gut ertragen. Habe auch vorher schon die Instagram- und Facebook-Apps vom Smartphone gelöscht, was ich allen sehr empfehle. Vielleicht lösche ich auch noch die Tagi-App trotz Abo. Gruss.»
Ein 69-jähriger Leser, der sich auch über die SRF-«Tagesschau» sowie das «Echo der Zeit» informiert, schätzt, dass bei diesen Medien die Infos fundiert seien und nicht reisserisch aufbereitet würden. Er plädiert dafür, den Medienkonsum nicht einzustellen.
«Schrecken, Abscheu und Trauer, manchmal auch Wut und Ohnmachtsgefühle gibt es durchaus. Allerdings hilft es sicher, wenn man sich regelmässig informiert und dadurch Hintergründe und Ursachen von Schreckensmeldungen besser versteht. Dann lassen sie sich vielleicht etwas erklären, was sie allerdings nicht besser macht.»
Wieder andere versuchen, im Alltag den schönen Dingen mehr Beachtung zu schenken. So etwa eine 52-jährige Frau, die sich seit der Jugend für Politik interessiert:
«Seit längerem schon merke ich, dass ich mich etwas schützen muss gegen die Nachrichtenflut. Die Kriege und der Klimawandel setzen mir zu. Ich versuche eine Balance zu finden zwischen Information und Abschalten. Nur negative Meldungen und Hass tun mir nicht gut. Ich versuche bewusst am Kleinen Freude zu haben, an einem guten Gespräch am Arbeitsplatz, manchmal während des Pendelns, Freude an der Natur zu finden.»
Intensive Auseinandersetzung
Während viele versuchen, ihren Medienkonsum einzuschränken, reagieren andere, indem sie sich umso stärker mit der Materie befassen. So etwa dieser 33-Jährige aus dem Kanton Luzern, der erst kürzlich in Ramallah war:
«Wenn ich nicht arbeite, bin ich fast jede freie Minute an diesem Thema dran. Ich schaue alles dazu auf SRF und ZDF. Lese dazu viele Artikel auf Tagesanzeiger.ch, ‹Watson› und ‹Blick›. Weiter schaue ich Videos auf Youtube und Instagram oder schaue den Nachrichtensender Welt.
«Die Bilder sind kaum zu ertragen und doch notwendig, wenn sie beide Seiten zeigen.»
Inzwischen bin ich am Boden zerstört und schaue täglich Videos von toten Kindern, die in Gaza aus den Trümmern geborgen werden. Es macht mich fertig. Ich versuche nun meine Freunde und Bekannten zu sensibilisieren. Ich fühle mich ohnmächtig, wirklich etwas zu tun, was helfen würde.»
Zu den Vielleserinnen gehört auch eine 66-jährige Frau, die sich gemeldet hat:
«Ich informiere mich über ‹Tages-Anzeiger›, ‹Republik›, SRF, Ärzte ohne Grenzen, Unicef. Mehrmals täglich, was mir leider nicht bekommt. Ich bin sprachlos und entsetzt. Die Bilder sind kaum zu ertragen und doch notwendig, wenn sie beide Seiten zeigen.»
Viele betonen, wie wichtig es sei, die Quellen von nicht verifizierten Nachrichten zu prüfen:
«Ich informiere mich über das öffentlich-rechtliche TV und über die Plattformen von Tageszeitungen wie ‹Zeit Online› und ‹Tages-Anzeiger›, die ich abonniert habe. Ausserdem recherchiere ich Hintergründe und die Geschichte im Internet. So versuche ich mir eine Meinung zu bilden.
Wenn ich Beiträge von Freunden gesandt bekomme, überprüfe ich die Quellen bestmöglich. In Social Media wird aus unterschiedlichsten Quellen viel Unsinn propagiert, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Das führt zu nichts Gutem.»
Eine 45-jährige Zürcherin hat die Regeln für ihre Kinder verschärft, während sie selbst online bleibt:
«Ich hatte ziemlich schnell ziemlich viele Videos und Stories in meiner Instagram-Timeline. Die ungefilterten Videos waren so dermassen brutal. Das ist so weit gegangen, dass ich nur noch mit zugekniffenen Augen durch meine Timeline gescrollt bin. Aber ich konnte es dennoch nicht lassen. Einige Videosequenzen haben mich tagelang verfolgt. Einmal musste ich mich fast übergeben.
Ich wurde dann über andere Kanäle informiert, dass ich den Zugang für meine Kinder – auf Tiktok und Instagram – sperren solle, damit sie diese bestialische Gewalt nicht ungefiltert sehen. Wir haben dann darüber gesprochen und uns auf einige neue Medienkonsum-Spielregeln geeinigt.»
Abgebrüht
Es gibt auch vereinzelt Rückmeldungen von Menschen, die angeben, die Bilder aus Nahost hätten nichts Besonderes in ihnen ausgelöst. Ein Leser schreibt:
«Weil ich wie viele etwas abgebrüht bin, der Realität kann und muss ich ins Auge sehen, und die Welt ändert sich damit nicht. Das hat nicht das Geringste mit Gefühllosigkeit zu tun, bloss mit sehr viel Lebenserfahrungen von Reisen, aber auch von der Weltgeschichte aus Büchern und Dokumentationen.»
Ein 59-Jähriger empfindet ähnlich:
«Ich bin vielleicht wegen meines Alters medienmässig etwas abgehärtet, aber keineswegs abgestumpft. Ich versuche, vor allen die News in der Zeitung zu lesen und über Radio oder Podcast zu hören. Es ist belastend, aber das gehört halt in diese Zeit. Wir hatten viele unbeschwerte Jahre hier in der Schweiz.»
Gesunder Medienkonsum: Der Psychologe gibt Tipps
Doch wie kann es all jenen, die sich schlecht distanzieren können, gelingen, eine sinnvolle Balance zwischen Information und Abgrenzung zu finden? Medienpsychologe Daniel Süss sagt, ein gewisser Selbstschutz sei richtig und wichtig. «Gleichzeitig ist es für die demokratische Meinungsbildung zentral, dass sich die Leute informieren und informiert bleiben.»
Eine mögliche Strategie sei, auf permanente News-Updates zu verzichten und sich stattdessen einmal pro Tag eingehend zu informieren. «Viele von uns sind ständig in den sozialen Medien unterwegs, scrollen von einer schlechten Nachricht zur anderen. Dieses ‹doom scrolling› nimmt unsere Aufmerksamkeit so gefangen, dass wir unter Umständen an kaum mehr etwas anderes denken können.»
«Falsch wäre es aber, in eine Verdrängungshaltung zu kommen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu leugnen.»
Ein gewisser Eskapismus sei in Ordnung. Also: am Abend gezielt eine seichte Netflix-Doku zu schauen oder sich anderweitig abzulenken. «Es kann sinnvoll sein, in gewissen Momenten das eigene Wohlbefinden in den Mittelpunkt zu stellen und sich von Ereignissen abzulenken, auf die man selbst keinen direkten Einfluss hat. Falsch wäre es aber, in eine Verdrängungshaltung zu kommen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu leugnen. Wir können uns an Wahlen beteiligen, wir können Hilfswerke unterstützen – und so unseren kleinen Beitrag leisten.»
Und wie schaffen es Medien, in Krisenzeiten umfassend zu informieren, ohne die Menschen mit all den negativen Schlagzeilen abzustossen? «Wichtig erscheint mir, dass bei schnellen und dramatischen Vorkommnissen nicht nur Ereignisberichte geliefert werden, sondern auch Einordnung. Es gilt, das grosse Bild zu zeigen, die Zusammenhänge zu erklären», so Süss.
In der Branche wird seit Jahren viel über konstruktiven Journalismus gesprochen, der positive Ansätze und Lösungen ins Zentrum stellt. Dennoch haben es solche Projekte schwer – auch weil sich die Leserschaft erwiesenermassen stärker für negative News interessiert.
Dies erklärt Süss unter anderem mit der Evolution: «Es war für die Menschen seit je fataler, ein Risiko zu unterschätzen, als es zu überschätzen. Wir sind biologisch darauf programmiert, beim Rascheln im Wald ein wildes Tier zu vermuten und es nicht als harmlos abzutun.» Und trotzdem halte er den konstruktiven Journalismus für unabdingbar. Damit nicht der Eindruck entstehe, die Welt werde immer schlechter, und man in ein Gefühl der Hilflosigkeit versinke. «In vielen Bereichen ist ja das Gegenteil der Fall, denken wir nur einmal an die gesunkene Kindersterblichkeit.»