July 26, 2024

Keir Starmer, der Chef der Labour-Partei, spricht monoton und farblos. Im Oktober 2023 überdeckte ihn ein Demonstrant mit Glitter.

Keir Starmer hat einen schweren Kopf und schaut vergittert drein. Er geht mit einem Ausdruck dauernder Sorge durch die Welt. Der 61-jährige Labour-Chef strahlt Intelligenz aus, zeigt Dossierkenntnisse und Engagement. Aber sobald eine Kamera auf ihn gerichtet ist, friert ihm das Gesicht ein.

Wenn Starmer redet, neigt er zum Dozieren. Spricht mit monotoner Stimme. Bleibt im Jargon des Juristen hängen. Kann die Leute nicht inspirieren und schon gar nicht mitreissen. Als Labour-Wählerinnen und -Wähler gefragt wurden, wofür denn Keir Starmer stehe, der die Partei seit vier Jahren führt, war die häufigste Antwort: keine Ahnung.

Die Briten sind am Boden

Dieser graue Herr will Grossbritannien retten. Eine Union, die nach 14 Jahren konservativer Herrschaft politisch ausgelaugt ist. Und wirtschaftlich dermassen mit den Folgen des Brexits kämpfen muss, dass die meisten den Entscheid bereuen. Eine Union, die an ihrem Gesundheitssystem krankt, an ihrer kaputten Infrastruktur, die an tiefen Löhnen und hoher Inflation leidet, an Armut und Resignation. Kein europäisches Land ist so schlecht dran wie Grossbritannien. Sogar hungernde Kinder gibt es dort.

Diese Zustände, sagen Beobachter, gingen Keir Starmer nahe. Weshalb er tiefgreifende Reformen für sein Land verlangt. Bis jetzt hat er nicht detailliert gesagt, wie er es umbauen möchte. Nur so viel ist klar: mithilfe einer politisch konservativ und wirtschaftspolitisch zugänglich ausgerichteten Labour-Partei. Bei ihr sollen die Linken weniger zu sagen haben.

Das erstaunt insofern, als Starmer als Anwalt während Jahrzehnten prononciert linke Positionen vertreten hatte. Was zur unweigerlichen Frage drängt, die der erfahrene Politjournalist Andrew Marr so formuliert: «Who is Keir Starmer, really?» Wer ist dieser Kerl eigentlich?

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Die britische Presse, nicht für ihre Zimperlichkeit bekannt, nennt ihn «Mr. Boring», Mister langweilig. Die Tories hassen ihn, weil sich abzeichnet, was Starmer genauso weiss wie sie, auch wenn er sich hütet, es öffentlich zu kommentieren: dass die konservative Regierung von Premier Rishi Sunak die kommenden Wahlen hoch verlieren wird. Dass also Labour wieder an die Macht kommt. Und ihr Chef in der Downing Street einzieht.

Die Linken in der Labour-Partei hassen Starmer noch viel mehr, seit er zuerst seinen sozialistischen Vorgänger Jeremy Corbyn ausrangierte, in der Folge die linken Meinungsmacher aus seinem Schattenkabinett entfernte und die Lücken mit Beratern von Tony Blair auffüllte. Starmer war so lange zu Corbyn und seinem Programm gestanden, als er ihn brauchte. Nach seiner Wahl liess er ihn fallen.

Ruchlos opportunistisch

Diese Kombination aus Opportunismus und Ruchlosigkeit erzürnt die einen in der Partei und erschreckt die anderen. Sie halten Keir Starmer für einen Technokraten mit einer rechten Agenda, der sogar die selber deklarierten Umweltziele seiner Partei aufgegeben hat. Aus wirtschaftlichen Gründen, argumentiert der Labour-Chef, sagt also dasselbe wie die Tories.

Nach aussen wirkt Starmer moderat bis zur Farblosigkeit, ein Bürokrat der Politik. Im Inneren baut er seine Partei nach seinen Vorstellungen um – konservativ, konsequent, erfolgreich. Langeweile ist nicht nur ein Charakterzug, sie funktioniert auch als Strategie. Der Löwenbändiger als Buchhalter, ein Peitschenschwinger mit Ärmelschonern.

Eigentlich wollte der Kandidat diese Vorwürfe mit einer befreienden Autobiografie entkräften. Gab aber bald auf mit dem für ihn so typischen Argument, noch nichts Wichtiges geleistet zu haben.

Der einstige «Times»-Journalist Tom Baldwin hat eine Biografie über Starmer geschrieben.

Ein politischer Vertrauter bot ihm an, diese Biografie fertig zu schreiben. Tom Baldwin ist ehemaliger Journalist der «Times» und war später als Sprecher von Labour aktiv. Starmer willigte ein, überliess Baldwin sein Material, stand ihm für Gespräche zu Verfügung und ermöglichte Kontakte zu Leuten, die ihn kannten. Letzte Woche ist «Keir Starmer – a Biography» erschienen (die deutsche Übersetzung steht noch aus). Das Buch wird in den britischen Medien enthusiastisch besprochen: endlich eine gründliche Lebensgeschichte dieses undurchdringlichen Politikers.

Ein freundlicher Biograf

Natürlich steht der Biograf auf der Seite des Kandidaten. Schon im Vorwort macht er deutlich, dass er ein freundliches Buch geschrieben habe; dass er trotzdem unabhängig geblieben sei; und dass er der Überzeugung bleibe, Keir Starmer sei ein mitfühlender, engagierter und fähiger Politiker.

Nach 450 Seiten Lektüre gibt man dem Biografen in seiner Haltung recht: Bei aller Kritik tritt er konsequent als Verteidiger des Kandidaten auf. Dazu gehört, dass Baldwin Starmers Schweigen oder Nichthandeln ausgerechnet bei jenen Themen ignoriert, bei denen man von einem Labour-Politiker eine klare Positionierung erwarten würde.

So hat der kommende Premier seinem Elektorat noch immer nicht gesagt, auf wessen Kosten er seine realistische Politik betreiben wird. Warum weigert er sich, die Steuergesetze zu verschärfen? Wieso wehrt er sich nicht gegen den konservativen Abbau demokratischer Rechte?

Und wenn er schon die Verkehrspolitik von Sadiq Khan kritisiert, dem tüchtigen Bürgermeister von London und Starmers Parteifreund: Was hat seine neugefasste Labourpartei denn für eine Alternative anzubieten? Was will Starmer als Premier gegen die erstickende Wohnungsnot unternehmen? Was wird er für die vielen vernachlässigten Regionen tun, die seit Jahrzehnten unter der politischen Fixierung auf London leiden? Warum tut er sich so schwer damit, eine neue Brexit-Abstimmung einzufordern?

Und doch glaubt Biograf Baldwin, der Kandidat Starmer werde unterschätzt. Als Symptom dafür nennt er ausgerechnet seinen grauen Auftritt. Baldwin interpretiert Starmers Glanzlosigkeit als Bemühen um Sachlichkeit. Dazu gehört für ihn dessen Unfähigkeit zu glitzernder Rhetorik, seine Abneigung gegenüber der Geste, das Misstrauen gegen alles Visionäre. Starmer ist ein Macher, den die Oppositionspolitik schon deshalb frustriert, weil sie «nur Lärm macht, ohne etwas zu verändern», wie er es formuliert.

Boris Johnson ekelte Starmer an

Tom Baldwin hat über hundert Gespräche mit Leuten über Keir Starmer geführt und kommt zum Schluss:  Der Kandidat nimmt sein Mandat ernst und arbeitet hart dafür. Zugleich empfindet er sehr wohl Mitgefühl für die Leute im Volk; abseits der Kameras kann er es auch gut mit ihnen.

Wobei sein oberstes Ziel in der Politik dasselbe bleibt wie im Fussball, den der Arsenal-Fan bis heute mit an Verbissenheit grenzender Leidenschaft betreibt: Keir Starmer will jedes Mal gewinnen. Aber eben für alle, glaubt sein Biograf. Also für die ganze Mannschaft. Und für die Leute auf den Rängen.

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Mit seinem Ernst unterscheidet sich der gesellschaftliche Aufsteiger von seinen konservativen Vorgängern. Rishi Sunak, Liz Truss und Boris Johnson betrieben eine fröhliche Günstlingswirtschaft für ihresgleichen. Am meisten ekelte sich Keir Starmer vor Boris Johnson. Schon wie dieser während der Pandemie Partys feierte, die er der Bevölkerung untersagt hatte, fand sein Kontrahent indiskutabel.

Der neue Mann von Labour mag ein Machtmensch sein, hat mit seinem Opportunismus seine Glaubwürdigkeit beschädigt und könnte mit seinem Rechtskurs der eigenen Partei schaden. Ein Zyniker aber, ein Egomane ist er nicht.

Von ganz unten

Tom Baldwin erklärt sich Keir Starmers hartnäckigen Charakter mit den Prägungen seiner Biografie: Er ist nach vielen Jahren der erste Labour-Chef aus einer Arbeiterfamilie, und nichts in seinem Leben fiel ihm leicht. Starmer wuchs als zweites von vier Kindern in einer Provinzstadt im südlichen Surrey auf.

Die Familie lebte arm und eng. Der Vater arbeitete als Werkzeugmacher und galt als distanzierter, eher mürrischer Typ. Die Mutter war Krankenpflegerin, bevor sie an einer seltenen und ausgesprochen schmerzhaften Autoimmunerkrankung erkrankte. Diese trieb sie immer wieder ins Spital, kostete sie ein Bein, nicht aber Ihre Heiterkeit. Dennoch musste Starmer schon als Bub lernen, seine Bedürfnisse zurückzustellen.

Als einziges der vier Kinder schaffte er es an die Universität, wo er in Leeds und Oxford Jurisprudenz studierte und bereits damals durch seine Disziplin auffiel. Als Anwalt kämpfte er gegen die Verletzung von Menschenrechten, half Vergewaltigungsopfern, engagierte sich vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Todesstrafe und erarbeitete sich den Ruf eines ausdauernden und verlässlichen Juristen. 2008 übernahm er das Amt des britischen Staatsanwalts, um das Justizsystem mit zu reformieren, und er tat das mit Erfolg. Für seinen Einsatz belohnte ihn Prince Charles mit dem Ritterschlag: Sir Keir Starmer.

Starmer ging gegen antisemitische Ansichten vor. Seine Frau Victoria ist Jüdin.

2014 wurde Starmer für Labour in das britische Parlament gewählt und fünf Jahre später zum Nachfolger von Jeremy Corbyn erkoren, der nach der schweren Niederlage seiner Partei zurückgetreten war. Zudem war Corbyn den Vorwurf nie losgeworden, sich zu wenig gegen den Antisemitismus in der Partei zu engagieren.

Starmer, dessen Frau Jüdin ist, suchte nach seiner Wahl sofort den Kontakt zur jüdischen Gemeinde, verstiess Corbyn aus der Fraktion und ging gegen antisemitische Ansichten vor. Dass diese bis heute erhoben werden, zeigt das Ausmass des Problems. Dass Muslime sich von Starmers Kurs brüskiert fühlen, zeigt das Ausmass seines Dilemmas.

Wie sehr sich Tom Baldwins freundliche Biografie als Prognose bewähren wird und nicht blosse Propaganda bleibt, wird Keir Starmer als Premier beweisen müssen. Bis auf weiteres lastet der Verdacht auf dem Kandidaten, von seiner Politik würden die wenigsten jener Wählerinnen und Wähler profitieren, die am meisten auf eine sozialere Politik angewiesen sind.

Man möchte dem absehbaren Premier zumindest glauben, was er von sich sagt: dass es ihm nicht um ihn selber gehe. Und dass er keine leeren Versprechen mache. «We campaign in poetry», sagen die Angelsachsen, «we govern in prose.» Als Kandidaten geben wir uns lyrisch, regieren tun wir dann in Prosa. Keir Starmer wird genau so prosaisch regieren, wie er jetzt kandidiert.

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@jemab

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