July 27, 2024

Pub steht für «Public House», ursprünglich mal ein Privathaus, das öffentlich zugänglich gemacht wurde: Ein Kunde trinkt im Juli 2021 in London auf die Lockerung der Corona-Massnahmen.

Mark Williams steht an diesem Montagmorgen draussen auf dem Parkplatz und schaut sich das Auto genau an. Am Wochenende hatte es hier so heftig gestürmt, dass ein Baum auf das Dach eines Geländewagens gestürzt ist. Der Besitzer des Autos sass derweil drinnen in Williams’ Pub, er war, nun ja, ziemlich bedient. Wegen des demolierten Autos, später womöglich dann auch wegen der Drinks, die Williams dem Gast auf den Schock hin ausgab.

Das mit den Drinks war für Williams Ehrensache. Später rief er ein Taxi, das den Gast sicher nach Hause brachte. Ob der wiederkommt, wird sich zeigen. Fest steht aber, dass er nach diesem doch recht denkwürdigen Pub-Besuch immerhin eine Geschichte zu erzählen hat. Genauso wie Mark Williams, der Publican.

Publican, so nennt man in Grossbritannien Leute, die ein Pub betreiben. Das von Williams heisst The Gomshall Mill, eine stillgelegte Mühle in der englischen Grafschaft Surrey im Süden Englands. Bis 1952 wurde hier Getreide gemahlen, danach zog ein Postamt ein. 2010 dann wurde aus dem Backsteinhaus ein Pub. Williams kaufte es mit zwei Geschäftspartnern vor gut einem Jahr.

Erfolgreich ist, wer überlebt. «Wir sind noch da», sagt Mark Williams von The Gomshall Mill.

Seither ist der Preis für ein Pint (0,5683 Liter) Lagerbier vom Fass merklich gestiegen. Allein im vergangenen Jahr um durchschnittlich 6 Prozent. Umgerechnet kostete ein Pint zuletzt knapp 5.15 Franken. Das ist allerdings nur der landesweite Durchschnittswert. In London zahlt man normalerweise 6 bis 7 Pfund, also um die 7 Franken.

Ein Pub ist ein Stück Heimat

Kein Wunder, dass in Grossbritannien nicht nur von einer «Pintflation» die Rede ist, sondern auch vom Aussterben eines Kulturguts. Mit den Pubs, die dichtmachen, verschwinden ja nicht nur irgendwelche Kneipen. Mit den Pubs sterben auch Orte, die dieses Land so liebenswert machen. Ein britisches Pub ist nicht einfach nur eine Bar oder ein Gasthaus. Für viele ist es ein Stück Heimat. Ein Ort, an dem Menschen zusammen trinken und essen, die sich sonst nicht begegnen. Arme und Reiche. Konservative und Liberale. Gegner und Befürworter des Brexits.

Auf den Barhockern sitzt gewissermassen ein repräsentativer Querschnitt des Landes. Und so liess sich am Tresen schon immer gut die Stimmung im Königreich ablesen. Frage also an Mark Williams, den Publican: Wie geht es einem Land, in dem Pubs sterben und das Bier immer teurer wird?

Nun, sagt Williams, es sei schon mal besser gewesen. Auch für ihn war das erste Jahr mit der Gomshall Mill nicht gerade einfach. Er sitzt jetzt an einem Tisch im Pub, unter den Original-Holzbalken der alten Mühle. Und ja, die elenden Rechnungen, sagt Williams, die hätten ihm das Leben schwer gemacht. Als etwa der Vertrag für Strom und Gas auslief, stiegen die Energiekosten auf einen Schlag von 5000 auf 20’000 Pfund. Im Monat.

25 Pfund für Fish and Chips? «Das geht nicht!»

Um so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen, prüften Williams und seine Angestellten die Stromzähler zweimal am Tag. Nicht nur Strom und Gas wurden teurer, auch die Preise für Getränke und Essen zogen massiv an. «Das hat unseren gesamten Gewinn verschlungen», sagt Williams. Aber immerhin: «Wir sind noch da.» In Zeiten wie diesen gilt: Erfolgreich ist, wer überlebt.

In der Gomshall Mill kostet eine Portion Fish and Chips 17,50 Pfund. Für arme Leute ist das viel. Und doch eigentlich zu wenig, sagt Williams.

Stellt sich nur die Frage, wie man das schafft: überleben? Ganz sicher nicht, indem man für eine Portion Fish and Chips auf einmal 25 Pfund verlange, sagt Williams. Nein, 25 Pfund für Fish and Chips, das gehe nicht; es sei ein Arme-Leute-Essen, das müsse bezahlbar bleiben. In der Gomshall Mill kostet eine Portion 17,50 Pfund. Für arme Leute ist das viel. Und doch eigentlich zu wenig, sagt Williams. Würde er alle Kosten an die Kunden weitergeben, müsste er 20 Pfund verlangen. Doch das gehe nicht, da würde ja keiner mehr kommen, sagt er.

Dann fährt Williams von Gomshall weiter nach Odiham, wo er ein weiteres Pub besitzt. Mit seinem Auto geht es über enge Strassen, vorbei an alten Bauernhöfen und Backsteinvillen. Immer wenn die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, sieht es hier aus wie auf einem Aquarell des englischen Malers J. M. W. Turner. Da sind das warme Licht, das satte Grün der Wiesen und die dunklen Schattenrisse von jahrhundertealten Bäumen.

Licht und Wärme sind zentral

Nicht ganz so schön ist es auf der High Street von Odiham, einem Städtchen mit gut 4500 Einwohnern. Dort, mitten auf der Hauptstrasse, steht The Red Lion. Gleich beim Eingang des Pubs gibt es einen Kamin. Und auf den Sitzbänken liegen karierte Kissen.

Im Grunde ist es ja so: Wer in ein Pub geht, sollte sich wohlfühlen. Das Licht darf auf keinen Fall zu grell sein, die Heizung nicht zu kalt. Licht und Wärme, das seien die wichtigsten Dinge, sagt Mark Williams.

Er steht jetzt an der Bar, spricht noch kurz mit einer Mitarbeiterin hinter den Zapfhähnen, dann geht er eine schmale Treppe hinauf zum Tresor. Dort liegen die Einnahmen vom Wochenende, also zumindest das, was bar gezahlt wurde. Williams nimmt die in kleinen Säcken verpackten Geldscheine mit ins Auto und legt sie auf die Rücksitzbank.

Seit dem Brexit mangelt es in der britischen Gastronomie überall an Personal: The Churchill Arms in London.

Nun geht es weiter nach Farnham, wo knapp 30’000 Menschen wohnen, einer davon ist Mark Robson. Er ist Geschäftspartner von Williams und Chairman einer Organisation, die alle Interessen der Pubs vertritt, genannt British Institute of Innkeeping.

Robson, 47 Jahre alt, sitzt an diesem Montag vor seinem Computer; er ist zurzeit ziemlich busy, deshalb findet das Gespräch als Videotelefonat statt. «Vor 30 Jahren gab es noch 25 Prozent mehr Pubs. Seitdem befindet sich die Branche im Niedergang», sagt Robson.

Woran liegt das? Die Menschen würden grundsätzlich mehr auf ihre Gesundheit achten, erläutert Robson, also: weniger Alkohol trinken. Ansonsten habe vor allem der Brexit geschadet. Die meist billigen Arbeitskräfte aus der EU, vor allem aus Osteuropa, dürfen in Grossbritannien nicht mehr so einfach arbeiten wie vor dem Brexit.

Der Brexit, Corona und jetzt noch die Inflation

Robson und Williams müssen nun vor allem jungen Britinnen und Briten zeigen, wie man ein Pint zapft. Die Sache ist nur: Es ist gar nicht so leicht, Leute zu finden, die überhaupt Lust haben, im Pub zu arbeiten. Seit dem Brexit mangelt es in der britischen Gastronomie überall an Personal.

Erst der Brexit, dann Corona und jetzt noch die Inflation. Es gab schon mal bessere Zeiten, um ein Pub zu führen. Robson kann die Zahlen herunterrattern, dass einem schwindlig wird: «Die Preise für Milch und Butter: plus 200 Prozent, die Preise für Brot: plus 100 Prozent, die Preise für Getränke: plus 10 Prozent.» Grossbritannien hat eine der höchsten Inflationsraten in Europa, im Dezember lag sie bei 4 Prozent.

Er will sich nun mit seinem Verband dafür einsetzen, dass die Regierung zumindest die Mehrwertsteuer für Restaurants und Pubs von derzeit 20 Prozent senkt. Ob das klappt, ist völlig offen. Fest steht jedenfalls, dass die Publicans sich von der Regierung vernachlässigt fühlen.

Das PR-Desaster des Premiers

Robson erinnert sich noch gut an einen Auftritt von Rishi Sunak beim Great British Beer Festival in London im vergangenen Sommer. Der Premierminister sollte ein paar Biere zapfen, ein paar schöne PR-Bilder produzieren, doch das ging gründlich schief. Als Sunak hinter dem Zapfhahn stand, rief plötzlich ein Mann vor der Theke: «Herr Premierminister, welch eine Ironie, dass Sie die Alkoholsteuer an dem Tag erhöhen, an dem Sie ein Pint zapfen.» Sunak tat so, als habe er nichts gehört, aber da war es schon zu spät.

Die Reporterinnen stürzten sich auf den Mann vor der Theke. Wie man mittlerweile weiss, heisst er Rudi Keyser, ist Mitte 40 und betreibt ein Pub in Wimbledon. Er habe nicht gedacht, hier den Premierminister zu treffen, sagte Keyser in die Kameras. Aber als er ihn gesehen habe, sei er wütend geworden. Das, was Sunak mache, sei nichts weiter als «ein Raubzug auf Kosten der Allgemeinheit». Alles werde teurer. Und in dieser Situation komme der Tory-Premier hierher, um fürs Selbstmarketing ein Pint zu zapfen – eine Frechheit, fand Keyser.

«Ein gutes Pub ist für alle da»

Auf dem Rückweg zur Gomshall Mill wird es Zeit für die Frage, ob sich das Leben als Publican überhaupt noch lohnt. Absolut, sagt Williams und lächelt. Was die Zahlen angehe, so müsse man bitte seinen Geschäftspartner Robson fragen. Der sagt: «Wir haben unsere Pubs eher günstig gekauft, renoviert und verdienen ganz gut.» Wäre das nicht so, würden sie es auch nicht machen. Dazu muss man sagen: Die Pubs, die sie betreiben, sind alles andere als Spelunken, eher Gasthäuser mit Bar.

Zu Williams kommen die Jäger auf ein paar Pints, die Mütter, die einen Kaffee trinken, oder der ältere Herr, der nur ein Glas Leitungswasser möchte. Und dann sind da noch die Hochzeiten und Geburtstagspartys.

Pub steht für «Public House», ursprünglich mal ein Privathaus, das öffentlich zugänglich gemacht wurde. Und das ist es heute noch: Ein Ort, an dem sich Menschen aus allen Schichten begegnen. Ein Ort, den es so nur in Grossbritannien gibt.

Gegen Ende seiner Pub-Tour biegt Williams jetzt mit seinem Auto auf die A25 in Richtung London ab. Er schaut noch einmal kurz in den Rückspiegel, dann sagt er: «Eigentlich ist es doch ganz einfach: Ein Pub ist ein gutes Pub, wenn es für alle da ist.»

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