July 26, 2024

Katastrophale Zustände für die Zivilbevölkerung: Vertriebene aus Khan Younis auf dem Weg nach Rafah.

Wenn er an den Nahen Osten denkt, dürfte Joe Bidens Laune weit unter null fallen. Was immer in der Region passiert, bereitet ihm den grössten anzunehmenden Ärger und verschlechtert seine Aussichten bei der Präsidentschaftswahl gegen Donald Trump. Der inzwischen mehr als dreimonatige Krieg zwischen Israel und der Hamas belastet die Rolle der USA in der Region und Bidens ohnehin wenig glanzvolle Präsidentschaft. Das schmälert seine Erfolgschancen, im Weissen Haus zu bleiben.

Biden braucht Ruhe in Nahost. Ein Ende oder zumindest eine Drosselung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist aber bisher kaum abzusehen. Im Gegenteil: Jeder weitere Tag der Kämpfe im Gazastreifen birgt die Gefahr eines grossen Regionalkriegs unter Beteiligung der Vereinigten Staaten und des Iran. In einem Krieg gegen die von Teheran geführte «Achse des Widerstands» könnte Washington zu Bidens Verdruss nicht mehr wie bisher eher moderierend am Rand stehen, sondern müsste militärisch die Hauptlast schultern.

Umstritten ist vor allem die Dauer einer Waffenruhe

Eine Hoffnung bleibt dem US-Präsidenten. Die rasche Freilassung der israelischen Geiseln könnte den Konflikt eindämmen und Biden eine Verschnaufpause verschaffen. Bei ihrem Terrorangriff in Südisrael hatte die Hamas am 7. Oktober mehr als 1200 Israelis getötet und rund 230 Personen entführt. Bei einem ersten Austausch gegen palästinensische Häftlinge sieben Wochen nach dem israelischen Gegenschlag gegen den Gazastreifen waren mehr als 100 Geiseln freigekommen – Frauen, Kinder und thailändische Saisonarbeiter gegen 300 palästinensische Häftlinge.

Seitdem stocken die von Ägypten, Katar und den USA vorangetriebenen Verhandlungen über weitere Freilassungen. Jetzt aber verdichten sich die Anzeichen für eine Lösung. Die «New York Times» hat jüngst über die Details eines Plans berichtet, der nun der Hamas vorgelegt werden soll: die Freilassung aller Geiseln – es sind vor allem Männer und israelische Soldaten und Soldatinnen – gegen eine sechs- oder achtwöchige Waffenruhe.

Überall Zerstörung: Menschen fahren im Flüchtlingscamp Al-Maghazi mit einem Eselwagen an eingestürzten Gebäuden vorbei (16. Januar 2024).

Bei der Dauer der Feuerpause liegen gemäss Berichten der israelischen Zeitung «Haaretz» die Positionen aber weiter auseinander. Israels Premier Benjamin Netanyahu will eine möglichst kurze Waffenruhe, damit seine Streitkräfte den Kampf danach fortsetzen und die Hamas vernichten können. Die Rettung der Geiseln und die Zerschlagung der Hamas sind Netanyahus laut verkündete Kriegsziele, an denen auch sein eigenes politisches Überleben hängt.

Die Vasallen des Iran stören, wo sie nur können

Für die Hamas stellt sich die Lage, kaum verwunderlich, ganz anders dar. Der Gazastreifen ist durch das israelische Bombardement ein fast unbewohnbares Trümmerfeld geworden. Schon etwa 26’000 Palästinenser haben ihr Leben verloren – zur Mehrheit Frauen und Kinder. Auch die Hamas selbst hat in den fast vier Monaten Krieg schwere Verluste erlitten. Ein Viertel oder gar die Hälfte ihrer geschätzt 30’000 Kämpfer sollen tot oder schwer verletzt sein.

Der Gaza-Krieg verläuft überhaupt nicht nach Israels Plan. Im Gegenteil, die Militanten leisten wider Erwarten weiter Widerstand, und dies trotz der Verluste ziemlich erfolgreich. Die Islamisten wollen bei einem Austausch der israelischen Geiseln daher das Gegenteil erzwingen: Freiheit für die gekidnappten Israelis gegen ein international garantiertes Kriegsende oder wenigstens eine sehr lange Waffenruhe.

Das käme de facto einer israelischen Niederlage gleich. Es würde das militärische und politische Überleben der Hamas samt der fortgesetzten Herrschaft über den Gazastreifen bedeuten. Einem solchen Freibrief für die Islamistengruppe könnte nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober weder Netanyahu noch irgendein anderer israelischer Politiker zustimmen.

Die USA wollen nicht in einen grossen Nahostkrieg verwickelt werden: Präsident Joe Biden.

Die Verhandlungen um eine Feuerpause gestalten sich weiter schwierig. Erschwert werden die Bemühungen um ein Ende des Geiseldramas nicht nur durch die Uneinigkeit der israelischen Führung, die in ihrem sogenannten Kriegskabinett erbitterte innenpolitische Konflikte austrägt. Auch die militanten Vasallen der Islamischen Republik Iran stören, wo sie nur können.

Der jüngste Angriff einer proiranischen Miliz auf einen Aussenposten der US-Armee in Jordanien forderte das Leben von drei Soldaten. Ein Dutzend weitere Amerikaner wurden verletzt. Militante – die USA verdächtigen die Kataeb-Hizbollah im Irak – hatten den Stützpunkt mit einer Drohne attackiert.

Die Amerikaner müssen eine Reaktion zeigen

Die drei toten Soldaten bringen Biden noch stärker in Bedrängnis. Er muss reagieren. Eine Sprecherin des US-Verteidigungsministeriums versuchte gleichzeitig, die innenpolitische Front zu befrieden und Zwischenrufer im Lager der Republikaner ruhigzustellen: Deren Hardliner fordern eine «Je härter, desto besser»-Antwort an Teheran. «Wir wollen mit Sicherheit keinen Krieg», wiegelte die Pentagon-Sprecherin ab. «Und ehrlich gesagt sehen wir auch nicht, dass der Iran Krieg gegen die USA führen will.»

Es wird sich also noch zeigen, wie Washington reagieren kann und wird. Wohl kaum mit Angriffen auf den Iran selbst – sicher aber mit weiteren Bombardements der Bundesgenossen Teherans im Jemen, in Syrien oder im Irak. Die iranischen Vasallen gefährden mit ihren Attacken Bidens Ziel: um keinen Preis einen grossen Nahostkrieg zulassen. Der US-Präsident möchte keinesfalls einen offenen Krieg gegen den Iran als Kopf der «Achse des Widerstands» führen müssen.

Krieg im Nahen Osten

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