Der Kampf mit medialen Waffen in Nahost zeigt: Konfliktparteien versuchen intensiv, die Öffentlichkeit über soziale Medien mit Falschinformationen zu beeinflussen. Faktenchecker halten dagegen – wenigstens ein bisschen.
Die Rakete war kaum eingeschlagen in der Klinik im Gazastreifen, als sich am Dienstagabend beide Konfliktparteien die Schuld am Tod Hunderter Menschen zuschoben. Im Internet wurden eilig Bilder und Videos gepostet, die angeblich zweifelsfrei beweisen, dass Israel verantwortlich sei. Die israelische Armee dementierte und lieferte Material, das auf den Islamischen Jihad in Palästina als Urheber hinweist.
Bereits der Ukraine-Krieg hat es gezeigt, Falschbehauptungen in den sozialen Medien werden immer intensiver als Waffen eingesetzt. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel tritt diese Praxis noch verschärfter auf: In den ersten Tagen des Nahostkonflikts habe die Menge an Desinformation auf X (vormals Twitter) «alles übertroffen, was ich je gesehen habe», sagt der BBC-Journalist Shayan Sardarizadeh.
«Netzkrieg» nennt Mitali Mukherjee, Direktorin des Reuters-Journalismus-Instituts an der Universität Oxford, die Strategie, die seit etwa 20 Jahren existiere. Die Akteure versuchten, «offen oder verdeckt das mutmassliche Wissen einer Zielbevölkerung über Vorgänge um sich herum zu beschädigen, zu zerstören oder zu verändern».
Flut an Desinformation
Mit einfachen Mitteln lassen sich so Millionen Menschen täuschen, denn viele informieren sich nur noch über die sozialen Medien. Angesichts der Masse widersprüchlicher Botschaften, oft von gefälschten Accounts stammend, ist es kaum noch möglich, den Überblick zu behalten. «Mehr als je zuvor», sagt Mukherjee, «gibt es einen Bedarf an verifizierbaren, eindeutigen und faktenbasierten Nachrichten.» Umso mehr, als traditionelle Medien, die bisherigen «Gatekeeper», stark an Vertrauen verloren haben.
Faktenchecker, teils an Nachrichtenunternehmen angedockt, teils unabhängig, versuchen, die Lücke zu füllen und Orientierung zu geben. Die «Flut an Desinformation, die in solchen Konfliktlagen auf uns einströmt», hält Uschi Jonas für «ein riesengrosses Problem». Die Leiterin der Faktencheck-Redaktion des deutschen Recherchezentrums Correctiv und ein knappes Dutzend Teammitglieder kämmen das Netz durch und reagieren auf Hinweise aus dem deutschen Sprachraum.
Sie sind Teil eines Netzwerks von knapp 50 Faktencheck-Redaktionen, die sich in Europa zusammengeschlossen haben. Alle arbeiten mit Bilderrückwärtssuche, Geolokalisierung, klassischen Recherchemethoden, Gesichtserkennung; sie etablieren verlässliche Quellen, übernehmen und überprüfen die Informationen anderer Faktenchecker. Zum grossen Teil geht es aktuell um Videos.
Nein, die USA evakuierten am 11. Oktober nicht ihre Botschaft im Libanon, das war «frei erfunden».
Eine Sisyphusarbeit. Am Ende einer Recherche kommt Correctiv etwa zu einer Bewertung wie dieser: Nein, die USA evakuierten am 11. Oktober nicht ihre Botschaft im Libanon, das war «frei erfunden». Nein, ein Video «zeigt nicht, wie Israel die Ermordung von Kindern inszeniert». Es stammt «aus einem Filmdreh und entstand vor dem Überfall auf Israel».
Shayan Sardarizadeh von BBC Verify sagt, er kenne inzwischen alle Videos aus aktuellen und früheren Konflikten, die im Netz eine grössere Rolle spielten. Das erleichtere es ihm, Manipulationen zu entdecken. Manchmal können die Rechercheure Bilder oder Videos in zehn Minuten verifizieren. Manchmal bringt sie erst stundenlange Puzzle-Arbeit ans Ziel. Der Hergang des Massakers, das die Hamas-Terroristen an Israelis auf einem Musikfestival verübten, liess sich mittels verifizierter Bilder und Videos klar rekonstruieren.
Angriff auf Lastwagen: noch keine klare Schlussfolgerung
Das Material zu dem Angriff auf einen Lastwagen mit vielen Menschen im nördlichen Gaza am vergangenen Freitag erlaubt dagegen offenbar noch keine klare Schlussfolgerung auf die Täter. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium starben dabei 70 Menschen. Die BBC präsentierte zunächst ein Video von der Szenerie nach der Attacke. Die Ursache der Explosion können Experten daraus nicht ermitteln.
Ein zweites Video zeige mutmasslich den Lastwagen mit den Menschen kurz vor dem Angriff – ein Detail verrate aber, dass es nicht dasselbe Fahrzeug sei. Was das heisst? Die BBC enthält sich jeglichen Kommentars, schreibt nur: «Die israelische Armee sagt, ihre Feinde versuchten, Zivilisten am Verlassen des Nordens zu hindern.»
Der Vorwurf, die Hamas habe Babys enthauptet, ist bislang weder belegt noch widerlegt.
Und welche Belege stützen den Vorwurf, Hamas-Terroristen hätten bei ihren Angriffen auf Kibbuzim 40 Babys enthauptet? Der Nachrichtensender al-Jazeera hat im Detail nachvollzogen, welche Seite was behauptet hat und später zurücknehmen musste. Faktenchecken im eigentlichen Sinne ist das nicht.
Da bringt ein Hinweis von Factcheck.org mehr: Offenbar wurden zwei News Clips einer israelischen Journalistin, die vom Ort des Geschehens berichtete, miteinander vermengt. In einem ist von 40 toten Babys die Rede, im anderen von Enthauptungen. Bisher sei die ursprüngliche Behauptung «nicht endgültig glaubwürdig be- oder widerlegt», sagt Uschi Jonas. Das zeige, «wie schwierig es aktuell teilweise ist, Informationen und Fakten einzuordnen».
Etwas klarer scheint die Informationslage in Bezug auf den völkerrechtswidrigen Einsatz von weissem Phosphor zu sein. Diesen Vorwurf gegen Israel hatte unter anderem Human Rights Watch erhoben. Ein ausführlicher Faktencheck legt nahe, dass die israelische Armee, anders, als sie behauptet, nicht auf ein Ersatzmittel zurückgegriffen hat.
Hoffnung schöpfen Experten wie Mukherjee aus der Beobachtung, dass sich immer mehr Menschen der problematischen Faktenlage im Netz bewusst seien. Laut dem Digital News Report 2023 des Reuters Institute äusserten 56 Prozent der Befragten eine entsprechende Sorge, Tendenz steigend.