July 27, 2024

Israel will die Hamas zerschlagen: Heftige Angriffe auf Khan Younis im Süden des Gazastreifens.

Am Freitag vor einer Woche hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag Israel aufgefordert, seine Kriegsführung in Gaza zu verändern. Südafrika hatte Ende Dezember Klage gegen Israel eingereicht und dem Land vorgeworfen, die Völkermordkonvention zu verletzen. In einem Eilantrag verlangte die Regierung in Pretoria einen sofortigen Waffenstillstand. Dem kam das Gericht nicht nach, forderte von Israel aber Schutzmassnahmen für die Zivilbevölkerung, mehr humanitäre Hilfe und die Unterbindung von «aufhetzenden Reden» seiner eigenen Politiker.

Die israelische Regierung reagierte empört auf die Entscheidung aus Den Haag, völkerrechtlich ist sie aber an sie gebunden. Was hat sich verändert seit dem Urteil? Sterben seitdem weniger Zivilisten? Eine Übersicht:

Schutz der Zivilbevölkerung

Es werden «weiterhin intensive israelische Bombardierungen aus der Luft, zu Lande und zu Wasser aus weiten Teilen des Gazastreifens gemeldet, die zu weiteren zivilen Opfern, Vertreibungen und Zerstörungen führten», stellen die Vereinten Nationen fest. Die Zahl der getöteten Palästinenser lag einen Tag vor der Entscheidung des Gerichts in Den Haag bei 25’900, eine Woche später bei 27’019, was einem Schnitt von 160 Opfern pro Tag entspricht, in der Woche vor dem Urteil lag er bei 182 Toten.

Nimmt man den gesamten Konfliktverlauf seit dem 7. Oktober, starben nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza durchschnittlich etwa 230 Menschen am Tag, die meisten von ihnen Frauen und Kinder.

«Israel hat die Entscheidung des obersten Gerichtshofs der Vereinten Nationen von letzter Woche ignoriert und innerhalb weniger Tage Hunderte Zivilisten im Gazastreifen getötet», sagte die südafrikanische Aussenministerin Naledi Pandor. Auf Medienanfragen zu den Konsequenzen aus dem Urteil in Den Haag reagierte die israelische Regierung nicht. Die Regierung in Tel Aviv hatte zuletzt berichtet, im Lauf des Kriegs etwa 9000 Hamas-Kämpfer getötet zu haben.

Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte nach dem Urteil, Israel werde «weiterhin tun, was notwendig ist, um unser Land und unser Volk zu verteidigen». Die israelische Armee will die Kämpfe gegen die Hamas auf Rafah im südlichsten Teil des Gazastreifens ausweiten. Dorthin war nach einer Aufforderung Israels mehr als die Hälfte der Bevölkerung geflohen.

Wie die Nachrichtenagentur Reuters an diesem Freitag berichtete, beschossen die israelischen Streitkräfte die Aussenbezirke des letzten Zufluchtsorts am südlichen Rand von Gaza, «wo die zu Hunderttausenden am Grenzzaun eingepferchten Vertriebenen erklärten, sie fürchteten einen neuen Angriff, da sie nirgendwo mehr hin fliehen könnten».

Lieferung von Hilfsgütern

Das Gericht in Den Haag hatte Israel aufgefordert, «alles zu tun, was in seiner Macht steht», um die Lebensbedingungen in Gaza zu verbessern und mehr Hilfe in das besetzte Gebiet zu lassen. Was hat sich in dieser Hinsicht geändert?

Zwei Tage nach der Entscheidung des Gerichts kamen nach Angaben der Vereinten Nationen 84 Lastwagen mit Hilfsgütern über die beiden Grenzübergänge – Rafah an der Grenze zu Ägypten und Kerem Shalom in Israel – nach Gaza. Vor dem Krieg waren es im Tagesschnitt 500, damals gab es in Gaza dazu noch Landwirtschaft, die mittlerweile weitgehend zerstört wurde.

Die humanitäre Lage ist katastrophal: Schlafstätte in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Rafah.

In der Woche seit dem Urteil kamen täglich im Schnitt 97 Lastwagen nach Gaza, allerdings liegen nicht für jeden Wochentag Daten vor. In der Woche vor dem Urteil waren es 156. An mehreren Stellen blockieren israelische Siedler Lastwagen mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Gaza. «Es hat sich nichts verändert, die Lage ist weiterhin katastrophal», sagte ein europäischer Diplomat in Kairo zu dieser Zeitung. «Bis zu 1,8 Millionen Menschen sind im Süden zusammengepfercht und kämpfen ums Überleben.»

Gemäss einem Bericht des israelischen Fernsehsenders Channel 12 überlegen Mitglieder des Kriegskabinetts von Netanyahu, die humanitäre Hilfe an Gaza weiter zu reduzieren, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen, die mehr als 100 israelischen Geiseln freizulassen. Die Menschenrechtsgruppe Euro-Med Human Rights Monitor liess verlauten, dass «Israel seine Bemühungen verstärkt hat, die Palästinenser auszuhungern und sie gewaltsam aus ihren Häusern im Gazastreifen zu vertreiben». Mindestens 60 Prozent der Häuser in Gaza sollen zerstört sein, Hilfsorganisationen nennen das Gebiet «unbewohnbar».

Angriffe auf Infrastruktur

Die britische BBC berichtete nach Auswertung neuer Satellitendaten, dass zwischen 50 und 61 Prozent aller Gebäude zerstört oder beschädigt worden seien. Täglich wirft Israels Luftwaffe Bomben mit enormer Sprengkraft auf Gaza ab. Doch jüngste Berichte in amerikanischen und israelischen Medien zeigen, dass die Verwüstung nicht allein auf Luftangriffe zurückzuführen ist. Auch die Bodentruppen sind durch gezielte Sprengungen oder das Niederbrennen von Häusern beteiligt. Israels Armee nennt als Grund dafür die Notwendigkeit, Terrorinfrastruktur zu beseitigen.

Die «New York Times» berichtete von Hunderten Gebäuden im Gazastreifen, die seit November durch kontrollierte Sprengungen zerstört worden seien. Dabei habe es sich um Wohnhäuser, aber auch um Moscheen, Schulen und andere öffentliche Gebäude gehandelt. Ausgewertet hat die Zeitung dazu Bild- und Videomaterial, das von den israelischen Streitkräften oder privat in den sozialen Medien veröffentlicht wurde, sowie Satellitenaufnahmen.

Aufruf zur Mässigung im Gaza-Krieg: Joan Donoghue, Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

Ein Grund – aber nicht der ausschliessliche – für die gezielten Zerstörungen am Boden könnte die von Israel geplante Einrichtung einer Pufferzone entlang der 60 Kilometer langen Grenze zum Gazastreifen sein. Berichten zufolge soll dafür ein ungefähr ein Kilometer breiter Streifen auf palästinensischem Gebiet freigeräumt werden, um Überfälle wie am 7. Oktober zu erschweren.

Nach Angaben der UNO sind 14 von 36 Spitälern in Gaza teilweise funktionsfähig, die Hälfte davon im Süden, wo sich der Grossteil der Bevölkerung befindet. «Das israelische Militär belagert die Spitäler in Khan Younis und nimmt die dortigen Gesundheitseinrichtungen direkt ins Visier», teilten die Vereinten Nationen mit. Israel entgegnet, dass seine Militäraktionen der Hamas gälten, die sich in medizinischen Einrichtungen verschanze.

Aussagen israelischer Politiker

Die Haager Gerichtspräsidentin Joan Donoghue hatte am vorletzten Freitag gefordert, Israel müsse «aufhetzende Reden» seiner Politiker unterbinden. Das ist offensichtlich nicht geschehen.

Zwei Tage nach dem Urteil besuchten elf Kabinettsmitglieder der Regierung eine «Sieg von Israel»-Konferenz, auf der Pläne für eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens durch Juden vorgestellt wurden. Itamar Ben-Gvir, der Minister für Nationale Sicherheit, sagte: «Wir müssen die freiwillige Migration fördern. Lasst sie gehen. Wir müssen nach Hause zurückkehren, denn das ist die Thora, das ist die Moral, das ist die historische Gerechtigkeit, das ist die Logik und das ist das Richtige.»

Oppositionsführer Yair Lapid erklärte, Netanyahus Koalitionsregierung habe einen «neuen Tiefpunkt» erreicht. «Dies stellt einen internationalen Schaden dar, untergräbt mögliche Verhandlungen, gefährdet Soldaten und spiegelt einen schweren Mangel an Verantwortung wider.»

Krieg im Nahen Osten

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