July 27, 2024

Benny Gantz gehört dem israelischen Kriegskabinett an, in Washington wurde er von hochrangigen Politikern empfangen.

Der US-Präsident war verreist, als Benny Gantz am Montag ins Weisse Haus kam. Es wäre sonst alles noch komplizierter geworden. Joe Biden kehrt erst am Dienstag aus dem Wochenendquartier Camp David zurück, wo seine Rede zur Lage der Nation am Donnerstag im Kongress vorbereitet wurde. Es wird bei der «State of the Union» vermutlich auch um den Nahen Osten gehen, dem Vernehmen nach hatte Biden ein Buch über ungelöste Konflikte im Gepäck. Und man darf davon ausgehen, dass er ganz dezent Abstand halten wollte zu seinem Amtssitz, in dem seine Vizepräsidentin Kamala Harris den Gast aus Israel empfing.

Es hatte sich herumgesprochen, dass Gantz, Mitglied im Kriegskabinett von Benjamin Netanyahu, ohne die Zustimmung seines Chefs nach Amerika gereist war. Er traf in Washington auch Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan und den republikanischen Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell. Für Dienstag steht ein Gespräch mit Aussenminister Antony Blinken an. Eine Begegnung mit Biden wäre für Netanyahu ein noch grösserer Affront gewesen, aber die Reise zeigt auch so, wie schwierig das Verhältnis der Verbündeten geworden ist.

Harris fordert Netanyahu zur Waffenruhe in Gaza auf

Nach dem Terror der Hamas am 7. Oktober mit mindestens 1200 Ermordeten und mehr als 240 Verschleppten war Biden rasch zu Netanyahu gereist und hatte ihm volle Unterstützung zugesichert. Aber seit immer mehr Bilder von Bombardierungen und toten Zivilisten in Gaza die Runde machen, ist Biden auch bei linken Amerikanern in die Kritik geraten. Bei den Vorwahlen in Michigan stimmten kürzlich etwa 100’000 Wählerinnen und Wähler der Demokraten lieber für «Uncommitted», also eine neutrale Option, als für ihn. Viele von ihnen haben offenbar arabische Wurzeln.

Biden verlangt von der Hamas die Freilassung der Geiseln und gleichzeitig von Israel eine Waffenruhe, um Hilfsgüter in die Trümmerlandschaft von Gaza zu bringen. Am Samstag warf die US Air Force Lebensmittel aus Flugzeugen ab. Seine Stellvertreterin Kamala Harris lobte gegenüber Gantz zwar Israels «konstruktiven Ansatz» bei den Verhandlungen mit der Hamas über einen sechswöchigen Waffenstillstand. Das Weisse Haus berichtete nach der Besprechung aber hinter verschlossenen Türen, dass sie «ihre tiefe Besorgnis über die humanitären Bedingungen in Gaza und die jüngste schreckliche Tragödie um einen Hilfskonvoi im nördlichen Gazastreifen» ausgedrückt habe. Ausserdem soll sie Israel aufgefordert haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und internationalen Partnern humanitäre Hilfe in das Palästinensergebiet zu lassen.

Am Sonntag in Alabama war Harris noch deutlicher geworden. Erst vor wenigen Tagen habe man gesehen, «wie sich hungrige, verzweifelte Menschen Lastwagen mit Hilfsgütern näherten, die einfach versuchten, Lebensmittel für ihre Familien zu besorgen, nachdem wochenlang fast keine Hilfe den nördlichen Gazastreifen erreicht hatte», sagte sie. «Und sie wurden mit Schüssen und Chaos empfangen.» Die Menschen würden hungern, die Bedingungen seien unmenschlich. «Und unsere gemeinsame Menschlichkeit zwingt uns zum Handeln.» Die israelische Regierung müsse mehr tun. «Es gibt keine Ausreden.»

Kamala Harris ist auf diese Weise eine Stimme der palästinensischen Zivilisten – was Biden aus geostrategischen Gründen zumindest öffentlich ganz so eindeutig vielleicht nicht sein mag. Auch soll sie bei dieser Gelegenheit wohl aussenpolitisches Profil gewinnen, sie ist immerhin die amerikanische Nummer zwei und würde nachrücken, fiele der 81-jährige Biden aus. Dennoch führt die Unterredung mit einem der wichtigsten Israelis zu diplomatischen Verwerfungen, weshalb sich John Kirby als Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates zu Erklärungen genötigt sah.

Gantz und Netanyahu bekämpfen sich

Der Besuch sei eine Bitte von Minister Gantz gewesen, erläuterte Kirby auf Anfrage. «Er ist ein Mitglied des Kriegskabinetts. Es herrscht ein Krieg zwischen Israel und der Hamas. Wir haben mit allen Mitgliedern des Kriegskabinetts verhandelt, einschliesslich Minister Gantz, seit er dem Kriegskabinett beigetreten ist.» Man schlage eine solche Gelegenheit nicht aus.

Der Streit um die US-Reise zeigt die ganze Unerbittlichkeit des innerisraelischen Konflikts – zwischen Netanyahu (71) und Gantz (64), einem ehemaligen Armeechef und Verteidigungsminister. Netanyahu hat ihn nach dem Hamas-Überfall in das notgedrungen entstandene, parteiübergreifende dreiköpfige Kriegskabinett geholt: Es sollte ein Vertreter des gegnerischen politischen Lagers bei der Bewältigung der schwersten Krise in der Geschichte des Landes eingebunden werden.

Doch Netanyahu, Gantz und Verteidigungsminister Yoav Gallant bekämpfen sich nun gegenseitig in genau diesem Kriegskabinett. Sie führen Israel, während sie zugleich unverhohlen schon jetzt um das Amt des zukünftigen Regierungschefs rivalisieren. Netanyahu will unbedingt im Amt bleiben. Sobald er den Posten des Premiers abgibt, werden ihn die Korruptionsvorwürfe überwältigen, wegen derer er bereits seit drei Jahren vor Gericht steht.

Dass Gantz nun gegen den Willen Netanyahus nach Washington geflogen ist, zu Vize Harris und Aussenminister Blinken, ist eine unfassbare Blamage für Netanyahu. Es schwächt ihn in den Augen aller Israelis: US-Präsident Biden hat Netanyahu seit dessen Wiederwahl Ende 2022 noch immer nicht im Weissen Haus empfangen und macht aus seiner Abneigung auch sonst keinen Hehl. Privat soll Biden Netanyahu sogar einmal «Arschloch» genannt haben.

Solange Krieg geführt wird, bleibt der Premier auch im Amt

Zwischen den Zeilen lesen die israelischen Medien aus all dem, dass die Führung in Washington im Hinblick auf eine Befriedung des Nahen Ostens ziemlich glücklich wäre, wenn sie es mit einer von Gantz geführten Regierung zu tun hätte. Und nicht mit dem als politischen Trickser verrufenen Netanyahu. Weshalb der zutiefst erzürnt mit dem Satz zitiert wird, in Israel könne es «nur einen Regierungschef geben».

Netanyahu und Gantz sind ausserdem die Antipoden im Streit um eine von Netanyahu angestrebte Justizreform. Mit der Reform will dieser nach Meinung seiner Gegner die Schlagkraft der Justiz zerstören und die Korruptionsvorwürfe gegen sich selbst vom Tisch bekommen. Seine innerisraelischen Gegner – und viele amerikanische sowie europäische Politiker ebenso – sehen darin den Versuch einer Demontage der israelischen Demokratie. Der Premier argumentiert, er wolle lediglich das historische Übergewicht des obersten Gerichtes ausgleichen.

Diese geplante Justizreform hatte das Land in den Monaten vor dem 7. Oktober gespalten, die Opposition hatte Netanyahu mit neun Monate dauernden Massenprotesten massiv unter Druck gesetzt. Der Hamas-Terrorüberfall setzte dem ein Ende, aber jetzt wird die Auseinandersetzung eben über die Strategie im Krieg gegen die Hamas ausgetragen: Solange Krieg geführt wird, kann es kaum Neuwahlen geben. Solange bleibt Netanyahu also im Amt. Weshalb er ein starkes persönliches Interesse an einer Verlängerung des Krieges habe, behaupten seine Gegner.

Umso erfreulicher für Gantz, wenn die USA als wichtigster Partner Israels ihre Sympathien so deutlich erkennen lassen, wie sie es mit dem Empfang eines Politikers tun, der Netanyahus innenpolitischer Erzfeind ist. Wobei Washington vorsichtig sein sollte: Die meisten israelischen Politiker sprechen sich im Grundsatz für die Fortsetzung des Krieges bis zur völligen Zerschlagung der Hamas aus.

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