July 27, 2024

Am Ende hat der Druck etwas gebracht: Protestierende vor dem französischen Senat fordern die Festschreibung des Schwangerschaftsabbruchs im Grundgesetz.

In Frankreich reden sie von einem historischen Moment, von einer «grossen Lektion für die Welt». Der Senat, die kleine und konservative Kammer des französischen Parlaments, hat am Mittwochabend mit einer unerwartet klaren Mehrheit dafür gestimmt, dass der Schwangerschaftsabbruch als «garantierte Freiheit» in die Verfassung der Republik aufgenommen wird. Mit 267 Ja gegen nur 50 Nein bei 22 Enthaltungen.

Die Überraschung über dieses wuchtige Votum war so gross, dass ein schöner Teil der Senatorinnen und Senatoren im Palais du Luxembourg von ihren Sitzen aufgesprungen ist und laut applaudiert hat – sich selbst und all jenen rechten bis reaktionären Kollegen, die sich in den vergangenen Wochen überzeugen liessen von der Vorlage. In der Nationalversammlung war der Zuspruch noch deutlicher gewesen.

Letzte Etappe: Schloss Versailles

Eine Etappe fehlt noch, eine letzte Abstimmung, sie wird nun zur Formalie. Präsident Emmanuel Macron lädt die Parlamentarier beider Kammern am kommenden Montag ins Schloss Versailles, damit sie dort als Kongress über die Verfassungsänderung befinden: Eine Mehrheit von drei Fünfteln ist nötig, also mindestens 555 von insgesamt 925 Stimmen. Summiert man die Ja beider Kammern, kommen 760 Stimmen von Abgeordneten und Senatoren zusammen.

Macron, der die umkämpfte Reform nach zwei gescheiterten Versuchen fest versprochen hatte, sagte nach der Abstimmung im Senat, diese Freiheit der Frauen werde nun «irreversibel».

Avantgarde für die Welt?

Nun, ganz stimmt das natürlich nicht, Verfassungen lassen sich ändern, wie er gerade beweist. Aber leicht ist das nicht. Es ist dies Frankreichs erste Revision im Grundgesetz seit sechzehn Jahren. Ausserdem ist die Meinung der Französinnen und Franzosen in dieser Sache sehr klar. In einer grossen Umfrage von 2022 sprachen sich 86 Prozent der Befragten dafür aus, dass das Recht auf Abtreibung, das in Frankreich als «Loi Veil» bekannt ist, benannt nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil, auch im wichtigsten Gesetzestext festgeschrieben wird. Eine Weltpremiere.

Französische Feministinnen, die viele Jahre lang dafür gekämpft haben, sehen in Frankreich deshalb jetzt eine Art Avantgarde, eine Vorlage für mögliche Nachahmer – in Zeiten, da dieses Recht auch im Westen vielerorts infrage gestellt wird, mehr oder weniger massiv. In den USA etwa, in Ungarn, in Polen, in Italien, überall dort, wo rechtstraditionalistische Kräfte stark sind oder regieren (lesen Sie hier einen Text über Abtreibungsrechte in den USA).

«Irreversibel» – so nennt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Entscheid des Parlaments.

Ein Teil der französischen Konservativen warf den Förderern vor, diese würden eine Gefahr heraufbeschwören, die es in Frankreich gar nicht gebe. Vor allem der rechte Flügel der bürgerlichen Républicains argumentierte so, mehr noch als die Lepenisten vom extrem rechten Rassemblement National, die früher die Vorhut der Abtreibungsgegner gebildet hatten. Es werde da nur Symbolpolitik gemacht, sagten manche Republikaner, völlig unnötig.

CNews macht Stimmung – und muss sich entschuldigen

Aber ist das auch wahr? Die Zahl der Gegner der IVG, wie die Franzosen den Schwangerschaftsabbruch nennen, Akronym für «interruption volontaire de grossesse», mag nicht sonderlich gross sein. Doch sie haben mächtige Fürsprecher, einen vor allem: Vincent Bolloré, den erzkatholischen bretonischen Grossindustriellen und Medienunternehmer. Viel Aufregung löste vor ein paar Tagen eine Sendung auf Bollorés Nachrichtensender CNews aus.

Der Moderator des Programms «En quête d’esprit» zeigte eine Grafik, auf der die angeblich drei grössten «Todesursachen auf der Welt» aufgeführt waren. An erster Stelle stand da: «Abtreibung: 73 Millionen pro Jahr». Dann kam «Krebs» mit zehn Millionen und «Tabak» mit 6,2 Millionen.

Bei der französischen Aufsichtsbehörde für audiovisuelle und digitale Kommunikation gingen Dutzende Anzeigen gegen den Sender ein. CNews musste sich entschuldigen. Die Empörung war auch deshalb gross, weil auf der Welt nach wie vor Zehntausende Frauen bei klandestinen Abtreibungen sterben.

Die bewegte Schlussrede der Überzeugerin

Vielleicht half der Fall CNews dem Lager der Befürworter, und vielleicht war er sogar mitverantwortlich für das überraschend klare Ergebnis im Senat: Da war er, der plastische Nachweis für die Gefahr, für diese ständige Zerbrechlichkeit von Rechten und Freiheiten, gerade jener der Frauen.

Die Cheflobbyistin: Mélanie Vogel, grüne Senatorin.

Die grüne Senatorin Mélanie Vogel, die monatelang lobbyiert hatte im Parlament und dabei viele Konservative überreden konnte, wandte sich nach der Abstimmung gerührt an die Kollegen: «Nie mehr Engelmacher, Kleiderbügel, Stricknadeln, Tote. Sagen wir unseren Töchtern, unseren Nichten, unseren Enkelinnen und deren Freundinnen: Ihr seid jetzt und für immer frei.»

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@OliverMeiler

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