September 16, 2024

Auf der Mappe hat sie das Foto ihres in Belarus inhaftierten Manns, Sergei Tichanowski: Swetlana Tichanowskaja während eines Interviews bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Die im litauischen Exil lebende Swetlana Tichanowskaja reist heute Montag nach Genf für ein Treffen mit den Botschaftern der UNO. Am Dienstag wird die Führerin der belarussischen Opposition, deren Mann aus politischen Gründen in Belarus zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, in Bern mit Vertretern des Schweizer Parlaments und des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten sprechen. Diese Redaktion konnte vorab ein Interview mit Tichanowskaja führen.

Wie wurde der Tod des russischen Oppositionsführers Alexei Nawalny in Belarus aufgenommen?

Nawalnys Tod hat uns alle schockiert. Es war Mord. Als ich die Nachricht hörte, musste ich sofort an unsere politischen Gefangenen denken. Es sind Tausende, und sie alle sind in grosser Gefahr. Kurz nach Nawalnys Tod erfuhren wir vom Tod des belarussischen Journalisten und Aktivisten Ihar Lednik im Gefängnis. Er war wegen eines Berichts verurteilt worden, in dem er Russland Verstösse gegen das Völkerrecht vorgeworfen hatte. Wie Nawalny bezahlte auch Lednik für seine Haltung und seinen Mut mit dem Leben.

Folgt Alexander Lukaschenko dem russischen Beispiel und geht noch härter gegen die Opposition vor?

Es ist Putin, der Lukaschenkos Beispiel folgt. Nicht umgekehrt. Das Ausmass der Repression ist in Belarus noch höher als in Russland. Seit den gefälschten Präsidentenwahlen 2020 waren mehr als 60’000 Menschen in Belarus in Haft. Fünf politische Gefangene starben.

Auch Lukaschenko schreckt nicht vor Mord zurück?

Putin und Lukaschenko testen ständig aus, wie weit sie ohne Konsequenzen gehen können. Deshalb hängt jetzt von der Reaktion des Westens auf die Ermordung von Alexei Nawalny und Ihar Lednik das Leben vieler Menschen ab. Wenn sich die Reaktion auf «tief empfundenes Beileid» beschränkt – und so sieht es bisher aus –, dann sollten wir uns auf weitere schreckliche Nachrichten einstellen.

Ihr Mann Sergei Tichanowski wollte bei den Präsidentenwahlen 2020 gegen Lukaschenko antreten, wurde zuvor verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Wie geht es ihm heute?

Ich wünschte, ich wüsste es. Seit einem Jahr wird ihm jeder Kontakt zur Aussenwelt verweigert. Sergei darf keine Briefe, keine Pakete, keine Anrufe und keinen Besuch erhalten. Auch nicht von seinen Anwälten. Ich weiss nicht einmal, ob er noch lebt.

Sie versuchen weiterhin, mit ihm in Kontakt zu treten?

Unsere Kinder schreiben ihm Briefe, bekommen aber keine Antwort. Ich weiss, dass er stark ist und dass nichts seinen Kampfgeist brechen kann. Aber diese Unsicherheit ist für mich eine grosse Herausforderung. Und es geht nicht nur um Sergei. Besonders grosse Sorgen mache ich mir um unseren Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki. Sein Leben ist in grosser Gefahr.

Was wissen Sie über den Zustand Ihrer Partnerin aus dem Frauentrio der Präsidentschaftswahlen 2020, Maria Kolesnikowa?

Ich weiss, dass sie im November 2022 im Gefängnis fast gestorben wäre. Damals wurden ihre Beschwerden lange ignoriert, und sie kam erst ins Spital, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte. Seither wird sie wie mein Mann ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten, höchstwahrscheinlich in Einzelhaft. Das ist auch eine Form der Folter.

Diktatoren unter sich: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko Ende Januar 2024 in St. Petersburg.

Die Oppositionsbewegungen Russlands und Belarus’ sind nun vor allem im Exil aktiv. Gibt es da Zusammenarbeit?

Ehrlich gesagt, nicht sehr. Manchmal interviewen uns unabhängige russische Medien. Gelegentlich nehmen wir an ihren Veranstaltungen teil. Wir Belarussen haben unseren Kampf und die russische Opposition hat ihren eigenen.

Aber Sie trafen unlängst Julia Nawalnaja auf der Sicherheitskonferenz in München.

Julia ist eine starke und mutige Frau. Sie kann der russischen Opposition helfen, sich zu vereinen. Aber in Belarus und Russland haben wir ganz unterschiedliche Bedingungen. In Belarus fanden 2020 Präsidentschaftswahlen statt, die ich laut unabhängigen Auszählungen  gewonnen habe. Das hat mir das Recht gegeben, im Namen des belarussischen Volkes zu sprechen, eine Schattenregierung zu bilden. Viele westliche Politiker erkennen mich als Präsidentin von Belarus an. Wir sind nicht die Opposition, wir sind die Mehrheit.

Welche Bedeutung haben die Parlamentswahlen in Belarus?

Keine. Die sogenannten Wahlen sind lediglich eine Methode, um Lukaschenkos Leute mit Posten zu versorgen. Das ist nicht einmal der Versuch, demokratische Wahlen zu imitieren. Die Führerinnen und Führer der Opposition sitzen im Gefängnis. Eine halbe Million Menschen im Exil werden ihres Wahlrechts beraubt. Selbst die Wahlbeteiligung ist gefälscht.

Sie werden diese Wahl also völlig ignorieren?

Nein. Wir nutzen die Wahlkampagnen des Regimes, um die Gesellschaft zu mobilisieren. Am Samstag haben unsere Cyber-Partisanen 2000 Bildschirme in ganz Belarus gehackt und der Bevölkerung meine Rede vorgespielt. So zeigen wir, dass das Regime nicht allmächtig ist. Wir haben mithilfe von KI einen virtuellen Kandidaten geschaffen. Er spricht mit den Menschen, beantwortet ihre Fragen und erklärt ihnen, wie sie die Wahlen boykottieren können. Einen virtuellen Oppositionskandidaten kann das Regime nicht ins Gefängnis stecken.

«Julia kann der russischen Opposition helfen, sich zu vereinigen», sagt Swetlana Tichanowskaja: Julia Nawalnaja am 16. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Fühlen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft ignoriert?

Natürlich hat sich die Aufmerksamkeit verschoben. Zum Krieg in der Ukraine, zu Israel und China. Leider ist sich die internationale Gemeinschaft der strategischen Bedeutung von Belarus nicht wirklich bewusst. Wäre unsere Revolution im Jahr 2020 erfolgreich gewesen, hätte Putin wahrscheinlich den Krieg gegen die Ukraine gar nicht begonnen. Würde das prorussische Regime in Minsk zusammenbrechen, wäre das ein harter Schlag für Putin und könnte zum Wendepunkt im Ukraine-Krieg werden. Deshalb sollte die internationale Gemeinschaft das demokratische Belarus unterstützen.

Wie soll sie das machen?

Wir plädieren für wirksame Sanktionen gegen Lukaschenko und dass sein Regime zur Rechenschaft gezogen wird. Mit einem internationalen Haftbefehl. Die Liste seiner Verbrechen ist lange: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Entführung ukrainischer Kinder, Entführung des Ryanair-Fluges, um einen oppositionellen Blogger festzunehmen, Deportation der Zivilbevölkerung. Es gibt internationale Institutionen, um solche Verbrechen zu verfolgen. Aber es braucht den politischen Willen – und etwas mehr Mut. 

Kommen Sie nach Genf, um von der UNO politischen Willen und Mut zu fordern?  

In Belarus herrscht nicht nur eine politische, sondern vor allem eine humanitäre Krise. Die Bevölkerung ist in Geiselhaft Lukaschenkos. Menschen werden willkürlich verhaftet, Menschen sterben in Gefängnissen. Was macht die UNO? Nichts. Nicht einmal der Hohe Kommissar für Menschenrechte will mich treffen und über Belarus reden. Ich werde das Thema deshalb vor den UNO-Botschaftern zur Sprache bringen. Nawalnys Tod sollte für die UNO ein Weckruf sein. Wir dürfen solche eklatanten Menschenrechtsverletzungen nicht länger dulden. Das ist ein Test für den Menschenrechtsrat der UNO und den Hohen Kommissar. Sie haben ein Mandat und sollten es ausüben.  

Wen werden Sie in Bern treffen?

Die Präsidenten von Nationalrat und Ständerat sowie Vertreter des EDA. Ich werde die Schweiz um mehr Unterstützung für die belarussische Zivilgesellschaft bitten. Die Schweiz hat eine Botschafterin in Minsk. Ich würde mir wünschen, dass sie sich aktiver für die Freilassung von Menschen einsetzt, die aus politischen Gründen unter schlimmsten Bedingungen inhaftiert sind. Die Schweiz hat das diplomatische Personal. Sie sollte dem Lukaschenko-Regime unangenehme Fragen stellen. Nützen Sie diese Möglichkeit!

Am Dienstag möchte sie Vertreter von Parlament und EDA wieder einmal um mehr Schweizer Hilfe für die belarussische Opposition bitten: Swetlana Tichanowskaja im März 2021 in Bern.

Wir haben unlängst über den Schweizer Hermann Beyeler berichtet, der als belarussischer Honorarkonsul häufig Gast in Belarus ist und von Geschäften mit dem Regime Lukaschenko profitiert. Ist das ein Einzelfall, oder kennen Sie ähnliche Beispiele aus anderen westlichen Ländern?

Lukaschenkos Regime nutzt das Netzwerk der Honorarkonsuln in verschiedenen demokratischen Ländern, um die eigenen Interessen zu vertreten, Geschäfte zu machen und Repressionen zu rechtfertigen. Ich denke, dass solche Konsuln dem Ruf der Länder schaden, in denen sie aktiv sind. Auch dem Ruf der Schweiz.

Sollte das Schweizer Aussenministerium Massnahmen gegen Honorarkonsul Beyeler ergreifen?

Ich weiss nicht, was die Schweiz hier tun könnte. Mein Vorschlag an die Schweizer Behörden: Vermeiden  Sie zumindest den Kontakt mit ihm und arbeiten Sie mehr mit Vertretern des demokratischen Belarus zusammen.

Die Schweizer Diplomatie hat doch auch schon einen Erfolg, als sie die politische Gefangene Natallia Hersche befreien konnte.

Damals haben wir alle die Schweizer Unterstützung gespürt und sind dafür sehr dankbar. Auch die von den Medien erzeugte öffentliche Aufmerksamkeit hat dazu beigetragen, Natallia Hersche aus Lukaschenkos Folterkammern zu befreien. Und gerade deshalb möchte ich das Schweizer Volk bitten, weiter an der Seite all jener zu stehen, die für Freiheit und Demokratie in Belarus kämpfen.

Die wahre Präsidentin von Belarus

Swetlana Tichanowskaja kandidierte bei den Präsidentenwahlen im August 2020, nachdem ihr Mann, der Blogger Sergei Tichanowski, von den Wahlen ausgeschlossen und verhaftet worden war. Gewählt wurde der autoritär regierenden Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko, das Wahlergebnis wurde jedoch wegen offensichtlicher Fälschung weder von der belarussischen Opposition noch den westlichen Staaten anerkannt. Die heute 41-jährige Tichanowskaja floh mit ihren Kindern ins benachbarte Litauen, von wo aus sie die Aktivitäten der Opposition koordiniert und den Kontakt zu Regierungen im Westen hält. Im Dezember 2020 erhielt sie in Brüssel als Vertreterin der weissrussischen demokratischen Opposition den Sacharow-Preis für geistige Freiheit. (bo)

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