September 8, 2024

Ein Politiker, der die Massen begeistern konnte: Alexei Nawalny bei einer Demonstration 2018 in Moskau.

Die letzten Bilder zeigen Alexei Nawalny grinsend, ihm ist das immer wichtig gewesen. Er wollte allen zeigen, dass er keine Angst kennt, sich niemals unterkriegen lassen wird. Die kleine Videosequenz stammt aus einem Justizgebäude in Charp, 2000 Kilometer östlich von Moskau. Luftlinie. Man sieht da Nawalny in Gefängniskleidung, das Haar raspelkurz, er steht hinter einem rautenförmigen Gittergeflecht. In den letzten drei Jahren hat ihn die Welt nur noch durch Gefängnisgitter gesehen.

Er scherzt, irgendwie geht es um Geld, um das hohe Gehalt des Richters, um Nawalnys leere Taschen. Der Ton ist miserabel, Nawalny ist fast nicht zu verstehen, so war das bei seinen Gerichtsauftritten oft. Der Gefangene lacht, der Richter lacht, dann sagt Nawalny noch: «Auf Wiedersehen».

An diesem Donnerstag soll das gewesen sein. Am Freitag schickte die Strafvollzugsanstalt im Kreis der Jamal-Nenzen vom Polarkreis aus eine Nachricht in die Welt, die sich schneller verbreitete als ein sibirischer Waldbrand: Am Freitag soll Alexei Anatoljewitsch Nawalny in Haft gestorben sein. Der 47-jährige Kremlgegner hinterlässt seine Frau und zwei Kinder.

Bis Freitagabend blieb die Strafvollzugsanstalt die einzige Quelle für die Todesnachricht. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch schrieb auf der Onlineplattform X, ihr liege noch keine offizielle Bestätigung seitens der Behörden vor. Ein Anwalt bemühe sich um nähere Informationen.

Videoschaltung bei einem Prozess: Alexei Nawalny, Insasse der Strafkolonie Polarwolf, in einer Aufnahme vom 11. Januar 2024.

Seit Jahren hatten seine Unterstützer davor gewarnt, hatten der Welt das gezeigt, was Nawalny niemanden sehen lassen wollte: Angst. Sie fürchteten um das Leben des Politikers, der Putin wie kein anderer Oppositioneller in den vergangenen 24 Jahren in Bedrängnis gebracht hat. Der zuerst vergiftet, dann verhaftet, dann immer wieder verurteilt wurde. Längst war allen klar: Dieser Mann kommt nicht mehr frei, solange Wladimir Putin an der Macht ist.

Gestorben ist er am eiskalten russischen Polarkreis, in der gefürchteten Strafkolonie Nr. 3, genannt: Polarwolf. Erst im Dezember war er dorthin verlegt worden. Vorher wussten sein Team und seine Familie wochenlang nicht, wo er war. An Weihnachten tauchte er in Westsibirien wieder auf, schon damals wirkte es so, als wollte man ihn hier einfach verschwinden lassen und auch seine letzten Verbindungen raus in die Welt kappen.

Tod nach einem Spaziergang

Erst Anfang Februar war er mal wieder in eine Einzelzelle verlegt worden, mit solchen Schikanen wurde er immer wieder für Lappalien bestraft, für einen offenen Knopf an der Gefängnisuniform oder dafür, dass er sein Gesicht nicht zur richtigen Zeit gewaschen hat. 308 Tage hat Nawalny seit seiner Inhaftierung in Isolationshaft verbracht, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch kürzlich sagte.

In Isolationshaft dürfen sich Gefangene tagsüber nicht hinlegen. Es ist eng, im Winter zugig. Nawalny hatte in der Vergangenheit immer wieder darüber geklagt, dass er nichts zu essen bekam. Er sollte offenbar gebrochen werden. Nawalny hat das gewusst und sich dagegen gestemmt, und alle sollten es sehen.

Nawalny habe sich nach einem Spaziergang in der Strafkolonie nicht wohlgefühlt, heisst es in der Erklärung der Strafvollzugsanstalt. Um etwa 13 Uhr sei ihm schlecht geworden, um 14.17 Uhr habe man seinen Tod festgestellt. Erste-Hilfe-Retter hätten noch versucht, ihn zu reanimieren. Vergeblich.

Nawalny, so kursierte es schnell in den russischen Medien, sei an einem Blutgerinnsel gestorben. Der russische Journalist Leonid Parfjonow schrieb auf Instagram: «Das ist ein politischer Mord.»

Russland kontert Vorwürfe

Die russische Führung, die den Namen Nawalny sonst nicht einmal aussprechen mag, musste sich jetzt irgendwie erklären. Maria Sacharowa, Sprecherin des Aussenministeriums, ging sofort in einen Angriff auf den Westen über. «Die schnelle Reaktion der Chefs der Nato-Staaten auf Nawalnys Tod in Form von direkten Beschuldigungen Russlands ist selbst entlarvend», schrieb sie auf ihrem Telegram-Kanal. «Die Medizinexperten des Gerichts sind noch gar nicht vor Ort, aber die Schlüsse des Westens sind schon fertig.»

Was man mit Sicherheit sagen kann: Seit Jahren zerlegen die russischen Behörden nicht nur den Politiker Nawalny, sondern dessen gesamtes System. Denn er stand für etwas, das der Kreml besonders fürchtete: für eine gut organisierte, gut vernetzte, bis tief in die russischen Regionen hineinreichende Opposition. Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker. Gezeigt hat sich das sogar dann noch, als er im Januar 2021 festgenommen wurde, Zehntausende gingen danach für ihn auf die Strasse. Seitdem hat es nicht mehr auch nur annähernd ähnlich grosse Proteste in Russland gegeben, weder bei Kriegsbeginn noch während der Mobilmachung.

Das muss auf Geheiss der Behörden übermalt werden: Alexei Nawalny als Graffiti in St. Petersburg, 2021.

Nawalny gab denjenigen, die wie er gegen Putin waren, zwei entscheidende Dinge: das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihrer Meinung, und einen Weg, die eigene Meinung auszudrücken. Die Masse gab den Leuten auf der Strasse Sicherheit, schliesslich konnte der Kreml nicht zehntausend Menschen auf einmal festnehmen. Es ist etwas, das Nawalny auch aus dem Gefängnis heraus immer wieder betont hat: Ihr seid nicht allein. Aber wie ist das jetzt, ohne ihn?

Nawalny war einst von ganz unten gekommen, trat in den 2000er-Jahren praktisch als völlig neuer Politikertyp auf den Plan. Lange war es vor allem Michail Chodorkowski gewesen, der Milliardär, Ölunternehmer, immer im feinen Anzug, der sich gegen Putins Regime aufgelehnt hatte.

Dann kam Nawalny, ein Anwalt, aber vor allem ein moderner Blogger, der das Internet zu seiner mächtigsten Waffe machte. Auf seiner Internetplattform «Live Journal» veröffentlichte er Material über grosse Korruptionsfälle in russischen Staatsunternehmen. An wichtige Informationen kam er deshalb, weil er sich ein paar Aktien dieser Unternehmen kaufte und als Aktionär so Einsicht in Bilanzen erhielt. Das alles war neu in Russland.

Nawalny, dieser freche junge Mann, wurde in Russland schnell beliebt. Die Boulevardzeitung «Moskowski Komsomolez» schrieb über ihn: Als Ikone der Opposition könne sich Nawalny als deutlich erfolgreicher erweisen als der steinreiche Chodorkowski. «Für das einfache Publikum war es sehr schwierig, einen ins Gefängnis geworfenen Reichen zu mögen. Aber bei jemandem, der einen furchtlosen Kampf gegen Korruption führt, ist das sehr einfach.»

Nawalny gegen «Partei der Gauner und Diebe»

Klar, dass der Kreml Nawalny bekämpft hat. Bei den Massenprotesten gegen Putin im Winter 2011/2012 war er vorn dabei, er trat auf Protestbühnen auf. Es war Nawalny, der nach der gefälschten Parlamentswahl die unbeliebte Putin-Partei Einiges Russland als «Partei der Gauner und Diebe» bezeichnete. Das war griffig, damit konnten die Menschen etwas anfangen.

Aber das Imperium schlug schon damals zurück. Im Sommer 2013 verurteilte ein Gericht in der Provinzstadt Kirow Nawalny wegen Veruntreuung zu fünf Jahren Lagerhaft. Er soll ein paar Jahre zuvor einer staatlichen Holzfirma angeblich zu einem schlechten Geschäftsabschluss geraten haben. Trotzdem durfte er überraschend noch einen Wahlkampf machen. Nawalny wollte Präsident von Russland werden, zuerst aber mal Bürgermeister von Moskau.

Die grossen Bühnen, schon gar nicht das staatliche Fernsehen, hat man ihm damals nicht gegeben. Trotzdem: Der staatlich mit allen Mitteln bekämpfte Nawalny wurde bei der Bürgermeisterwahl Zweiter, mit 27 Prozent. Ein Affront für den Kreml.

Zur Präsidentenwahl 2018 wurde Nawalny natürlich nicht zugelassen, die Wahlkommission wies sehr förmlich auf seine diversen Vorstrafen hin. Aber er schaffte es immer wieder, die russische Führung blosszustellen, ihr das Leben schwer zu machen, sie zu beschäftigen.

Vor allem der ehemalige Präsident Dmitri Medwedjew bekam die ganze Wucht von Nawalnys Wagemut zu spüren. In einem Video erzählte Nawalny der Bevölkerung von Medwedjews Luxusjachten, Villen und toskanischen Weinfeldern. Das Video wurde über 30 Millionen Mal angeklickt, Russland war danach ein anderes Land. Bis heute antworten Anhänger, wenn man sie fragt, wann sie sich für Nawalny entschieden haben, es sei dieser Moment gewesen, dieses Video. Viele, vor allem viele junge Menschen folgten nicht nur Nawalnys Protestaufrufen, sondern engagierten sich landesweit für seine Kampagne.

Nawalnys Wahlkampfbüros, die nie bis zum Ende kämpfen durften, blieben auch dann bestehen, als Putin sich 2018 längst zum vierten Mal zum Wahlsieger erklärt hatte. Sie arbeiteten als regionale Stäbe für Nawalny in vielen Städten Russlands weiter, politisch, aber auch aktivistisch. Sie legten die Korruption der Politiker vor Ort offen, Nawalnys Team schnitt dann oft alles in humorvollen Videos zusammen. Keinem anderen Oppositionellen ist es gelungen, ein solch breites Netzwerk in Russland zu bilden, wie Nawalny.

Weil der «Blogger», wie Putin ihn mal abfällig nannte, nicht mehr kandidieren durfte, dachte er sich eine andere Taktik aus: Er gab den Leuten Wahlempfehlungen für Liberale, für Rechte oder Kommunisten, ganz egal, gewählt werden sollte immer derjenige, der die beste Chance gegen Putins Kandidaten hatte. Die Taktik hatte ihre Gefahren, Nawalny half dabei auch Kandidaten mit ins Amt, die sich später für den Krieg aussprachen.

Giftanschlag des Geheimdienstes FSB

Wie sehr Nawalny Putins Behörden in Bedrängnis brachte, zeigt die Gnadenlosigkeit, mit der sie später gegen ihn vorgingen. Das erste Mal, dass dann die ganze westliche Welt wegen Nawalny kurz stillzustehen schien, war im August 2020. Nawalny war auf einem Inlandsflug vor Schmerzen schreiend zusammengebrochen, der Pilot entschied sich zur Notlandung in Omsk. Dort sprachen die Ärzte immer nur von einer Stoffwechselstörung.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder auch EU-Ratspräsident Charles Michel: Alle redeten auf den Kreml ein. Dieser liess schliesslich zu, dass man Nawalny nach Deutschland ausflog. Er wurde in Berlin behandelt, auch das Gift war schnell benannt: Nowitschok.

Später berichtete die Rechercheplattform «Bellingcat», dass Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Nawalny schon lange gefolgt waren und den Anschlag geplant hatten. Putin ist darauf sogar angesprochen worden, Ende 2020 bei einer Medienkonferenz. Nawalny sei kein lohnendes Ziel, sagte er nur, natürlich ohne dessen Namen auszusprechen. Wenn jemand ihn hätte umbringen wollen, hätte man das «bis zu Ende gebracht».

Er wollte unbedingt nach Russland zurück: Festnahme von Alexei Nawalny in Moskau im Januar 2021.

Nawalny erholte sich in Deutschland und: Er ging zurück nach Russland. Er hat das immer damit begründet, dass ein Nawalny im Exil ein zu grosses Geschenk für den Kreml gewesen wäre. Denn sowohl der Kreml als auch dessen Gegner wissen, dass ein Oppositioneller im Exil nicht funktioniert, er verliert das Gefühl für Russland, und die Russen verlieren das Gefühl für ihn.

Ein Oppositioneller hinter Gittern aber, das ist eine ständige Erinnerung an Putins grosse Schwäche, dass er es nie gewagt hatte, sich Nawalny bei einer Wahl zu stellen. Um den Oppositionellen mundtot zu machen, liess er immer härtere Mittel einsetzen – ganz geschafft hat er es zu Nawalnys Lebzeiten trotzdem nie.

Um den Oppositionellen zu besiegen, muss der Kreml auch dessen Strukturen niederreissen. 2021 liess er Nawalnys Organisationen für extremistisch erklären. Jede Assoziation mit ihm war von da an gefährlich, frühere Mitarbeiter flohen ins Exil oder wurden eingesperrt. Manchmal schimmern in Russland noch Reste ihres Einfallsreichtums durch das dichte Netz an Verboten.

Vor kurzem haben sie Plakate in russischen Städten aufgehängt, mit scheinbar harmlosen Neujahrsgrüssen. Erst wenn man den kleinen Code auf dem Plakat mit dem Handy einscannte, landete man auf oppositionellen Internetseiten. Als das auch die Behörden verstanden, verschwanden die Plakate. Zuletzt wurden sogar Nawalnys Anwälte unter dem Extremismusvorwand eingesperrt, sie waren im Straflager seine letzte Verbindung nach draussen.

Nawalnys Frau tritt in München auf

Bald steht in Russland wieder eine Wahl an, die den Namen nicht verdient. Putin will sich Mitte März zum fünften Mal im Amt bestätigen lassen, gerade erst wurde der letzte unabhängige Oppositionelle von der Wahlkommission aus dem Rennen sortiert. Er hätte ohnehin keine Chance gehabt, der Kreml wollte aber offenbar nicht mal ein paar Prozente der Protestwähler riskieren.

Für Putin dürfte die Nachricht aus Westsibirien zur Unzeit kommen. Er wünscht sich Ruhe vor der Abstimmung, die Nachricht von Nawalnys Tod ist eines der wenigen Dinge, die diese Ruhe noch stören könnten. Denn niemand weiss, wie die Russen darauf reagieren werden.

Nawalnys Frau Julia ist in diesen Tagen in München. Sie konnte kaum fassen, was sie da soeben erfahren hatte, Tausende Kilometer entfernt. Alexei tot? Nawalnaja traf die Nachricht auf der Sicherheitskonferenz, erschüttert trat sie für ein paar Minuten vor die Mikrofone. Sie trug einen dunklen Blazer, das blonde Kurzhaar streng nach hinten gekämmt. Sie wusste erst kaum, wo sie hinschauen sollte, drehte den Kopf mehrmals zur Seite und fasste sich dann.

So gross ist das Misstrauen gegen den russischen Staat, dass sie die Todesnachricht noch gar nicht glaubte. Sie komme ja bisher nur aus staatlichen Quellen, sagte Julia Nawalnaja am Freitagnachmittag. Putin und seine Regierung würden ja ständig lügen.

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@SilkeBigalke

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