September 8, 2024

Seinetwegen kocht der ungarische Volkszorn: Peter Magyar (43) diese Woche in Budapest.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Cookies zulassenMehr Infos

Peter Magyar hat in kürzester Zeit zum zweiten Mal geschafft, worum sich die ungarischen Oppositionsparteien immer wieder vergeblich bemühen: Er hat Mitte Februar – und dann erneut an diesem Dienstag – mit seinen Vorwürfen gegen die Regierung von Viktor Orban Tausende Demonstranten im Zentrum von Budapest zusammengeführt – und zugleich mit seinen Postings auf sozialen Medien den Volkszorn zum Kochen gebracht. Und wie schon vor sechs Wochen könnte der 43-jährige Jurist auch diesmal die rechtsnationale Regierung gewaltig unter Druck setzen.

Magyar, eben noch ein relativ unbekannter Diplomat, Manager in staatsnahen Unternehmen und Insider der Regierungspartei Fidesz, ist dadurch zum neuen Star in Ungarns Politik aufgestiegen. Und auch wenn er erst seit kurzem öffentlich gegen Orban mobilisiert, so würden doch schon jetzt, gemäss Umfragen, etwa neun Prozent der Ungarn eine Partei von Magyar wählen, die dieser noch nicht einmal gegründet hat.

Ein Justizskandal begründete seinen Ruhm

Am Dienstag veröffentlichte der Ex-Mann von Ex-Justizministerin Judit Varga gegen deren Willen den Mitschnitt eines Gesprächs, das er Anfang 2023 mit seiner Frau geführt hatte; damals war sie noch Ministerin der Regierungspartei. Es geht in dem Tape um einen Korruptionsskandal.

Zwei hochrangige Fidesz-Mitglieder stehen deswegen derzeit vor Gericht. Magyar aber fordert den Rücktritt von mehreren Regierungsmitgliedern, am besten gleich der ganzen Regierung. Varga bestreitet den Inhalt des Mitschnitts nicht, erklärte aber in mehreren Facebook-Posts, dass ihr Mann in ihrer Ehe gewalttätig gewesen sei und sie regelmässig bedroht habe. Sie habe daher in der Unterredung nur gesagt, was er habe hören wollen.

Aber zu alledem später mehr. Denn Varga musste im Februar 2024 wegen eines anderen Skandals gemeinsam mit Staatspräsidentin Katalin Novak zurücktreten. Beide Frauen hatten das Gnadengesuch eines stellvertretenden Leiters eines Kinderheims abgezeichnet. Dieser war zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er geholfen hatte, den sexuellen Missbrauch seines Vorgesetzten an Kindern zu vertuschen.

Der Fall löste den bisher grössten Skandal in der Geschichte der Fidesz-Regierung aus. In den Augen von Orbans Kritikern zeigte er beispielhaft die Hybris einer Regierung, die sich als Vorkämpferin gegen Pädophilie inszeniere, aber den Helfershelfer eines Kinderschänders laufen lasse. Und er war die Geburtsstunde des jungen Ruhms von Peter Magyar, der die Regierung deswegen massiv angriff.

Millionen sahen sein Interview

Er ist seit etwa einem Jahr von Judit Varga geschieden, hat aber mit ihr drei Söhne. Und meldete sich nach dem erzwungenen Ausscheiden seiner Ex-Frau aus der Politik plötzlich mit dem Vorwurf zu Wort, hier würden zwei Politikerinnen zu Bauernopfern einer verlogenen Politik gemacht. Ungarn sei ein Mafia-Staat: «Wenn wir nicht haben wollen, dass unsere Kinder in einer Familien-AG namens Ungarn aufwachsen, dann wäre es gut, etwas daran zu ändern.»

Magyars zahlreiche Zuhörer skandierten: «Ins Gefängnis, ins Gefängnis!»

Er sagte das in einem Interview mit dem regierungskritischen Sender Partizan, in dem er das «korrupte System» um Orban, dessen engste Vertraute und dessen Familie anprangerte. Das Video des Interviews wurde im 9-Millionen-Einwohnerstaat Ungarn etwa 2,4 Millionen Mal aufgerufen. Bei Massenprotesten gegen den Missbrauchsskandal trat auch Magyar auf – und wurde zum Volkshelden, was er sichtlich genoss. Seine Frau hielt sich derweil auffällig zurück, und Orban war noch zu sehr damit beschäftigt, die Causa von sich selbst fernzuhalten, als dass sein neuer und aktuell schärfster Kritiker in den Fokus der Fidesz-Propagandamaschine geraten wäre.

Das ist nun anders. Einiges ist anders. Magyar hat mittlerweile nachgelegt, was seinen Vorwurf vom Mafia-Staat angeht. Er habe, so verbreitet er seit Tagen, Belege dafür, dass ein laufendes Gerichtsverfahren von höchster Stelle manipuliert worden sei. Aber die Regierungspropaganda dementiert nicht nur. Sie wirft Magyar jetzt wie seine Ex-Frau vor, er sei ein notorisch gewalttätiger Narzisst. Und habe mit der aktuellen Kampagne nur von seinem Bedeutungsverlust nach der Scheidung ablenken wollen. Das Informationsbüro der Regierung liess auf Anfrage dieser Redaktion wissen, die Situation erinnere an das bekannte Shakespeare-Stück «Viel Lärm um nichts». Ein Ehestreit mit einer Frau, die von ihrem Mann fortgesetzt bedroht werde, gehöre nicht in den öffentlichen Raum.

Der «Propagandaminister» als Profiteur

Es geht bei alledem um einen Fall aus dem Jahr 2021, der auf den ersten Blick trivial erscheint, aber in höchste Regierungskreise hineinreicht. Vor drei Jahren wurde bekannt, dass der damalige Vize-Justizminister und Fidesz-Mann Pal Völner vermutlich regelmässig hatte bestechen lassen. Dafür soll Völner Stellen an Kandidaten vergeben haben, die ihm zuvor empfohlen worden waren. Dafür sollen hohe Kickback-Zahlungen aus der Branche geflossen sein. Der Vorwurf damals wie heute: Unter Orban sei ein hochgradig institutionalisiertes Korruptionsnetzwerk entstanden, von dem vor allem der engste Kreis des Regierungschefs profitiere.

Mittlerweile stehen in diesem Zusammenhang mehrere Verdächtige vor Gericht. Aber: Laut Peter Magyar, der mit seinen Vorwürfen bereits vergangene Woche an die Öffentlichkeit ging und mittlerweile stundenlang von der Staatsanwaltschaft verhört wurde, gab es weitere Profiteure: darunter den engsten Orban-Vertrauten und Minister für Information und Geheimdienste.

Der mächtige Mann, der in der ungarischen Opposition als «Propaganda­minister» firmiert, soll dafür gesorgt haben, dass in den Ermittlungsakten Hinweise auf seine Beteiligung getilgt wurden. Die Ermittlungen, so lässt Magyar die Öffentlichkeit wissen, zielten mithin nicht auf Aufklärung, sondern auf Vertuschung.

Um seine Vorwürfe zu belegen, veröffentlichte er am Dienstagmorgen jenes Audiotape, das er nach eigenem Bekunden heimlich im Gespräch mit seiner Frau, der damaligen Justizministerin, aufgenommen hatte. Darin räumt Varga ein, dass versucht worden sein soll, Ermittlungsakten säubern zu lassen.

Die Ermittlungsbehörde dementiert auf das Schärfste. Das sei «physisch unmöglich», zumal die Akten nicht alle an einem Ort gesammelt und gespeichert seien. Der neue, durchaus eitle Star der Orban-Kritiker bleibt dennoch dran. An einer spontanen Grossdemonstration am Dienstagabend rief er der jubelnden Menge zu: «Wir werden nicht zulassen, dass sie den grössten juristischen und politischen Skandal der letzten dreissig Jahre vertuschen.» Die Zuhörer skandierten: «Ins Gefängnis, ins Gefängnis!»

Orban’sche Provokationen

Mit Prinzipien der Partei gebrochen: Orban verliert gleich zwei Vertraute Rücktritte in UngarnMit Prinzipien der Partei gebrochen: Orban verliert gleich zwei Vertraute

Viktor Orbán schickt Soldaten nach Tschad, und alle fragen sich – warum?Ungarns AussenpolitikViktor Orbán schickt Soldaten nach Tschad, und alle fragen sich – warum?

Orbans Schweden-Poker ist eine diplomatische FarceAboAnalyse zu Ungarns BlockadepolitikOrbans Schweden-Poker ist eine diplomatische Farce

3 Kommentare