Die russischen Streitkräfte sind in der Ukraine gerade auf dem Vormarsch. Der Militärexperte Gustav Gressel erklärt im Interview, warum das nicht so bleiben muss.
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Kupjansk, Bachmut, Awdijiwka, Robotine, hier liegen die Schwerpunkte der Angriffe: Die russischen Streitkräfte in der Ukraine sind auf dem Vormarsch. Einige Beobachter befürchten, dass bald grosse Durchbrüche folgen könnten, nicht mehr zu stoppen von der ukrainischen Armee. Kiew fehlen vor allem Soldaten und Artilleriemunition. Doch die Situation sei nicht hoffnungslos, sagt Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik European Council on Foreign Relations.
Herr Gressel, wie dramatisch ist die Lage an der Front für die Ukraine?
Die Lage ist enorm angespannt. Die Russen versuchen, die aktuelle ukrainische Schwächephase auszunützen, sie versuchen vor allem mit einer schnellen Truppenrotation, den Druck zu erhöhen, greifen mit frischen Soldaten an und planen, einen Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte herbeizuführen.
Noch gibt es keine grossen russischen Durchbrüche.
Die Russen haben das gleiche Problem wie die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive. Die russische Infanterie kann Einbrüche erzielen, macht aber am Tag nur 200 bis 500 Meter gut. Gepanzerte Fahrzeuge geben aus der Ferne Feuerunterstützung, also von dort, wo man sie durch Störsender relativ gut vor Drohnen schützen kann. Wenn sie versuchen, mit gepanzerten Kolonnen weiter in die ukrainische Tiefe zu gehen, müssen sie den Schutz ihrer elektronischen Störer verlassen. In dem Moment sind sie verwundbar, und die ukrainischen Drohnen können einen grossen Teil der Fahrzeuge zerstören oder beschädigen. Denn für die portablen Störgeräte, welche die Russen auf den Panzern haben, haben die Ukrainer gute Programmierlösungen gefunden.
Militärexperte
Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations. Er ist Experte für Russland, Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr. Gressel absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.
Wird das so bleiben?
Schwer vorherzusagen. Wenn die russischen Kommandeure ein Rezept finden, dann sieht es schlimm aus, dann könnten die Russen wirklich im Herbst entlang des Dnjepr stehen. Wenn sie keines finden, wenn die Ukrainer so weiterarbeiten, die Russen stark abnützen und ihnen den Durchbruch verwehren, dann wird sich die Front unter hohen russischen Verlusten über den Sommer hinweg nur wenige Kilometer verändern.
Der britische Geheimdienst hat gerade gemeldet, dass die Russen am Tag 1000 Verletzte oder Tote haben. Ist diese hohe Zahl realistisch?
Ja, durchaus, weil die Russen infanteristisch angreifen, das heisst, die Leute verlassen oft einen Kilometer von der Kontaktlinie entfernt ihren Schützenpanzer und gehen dann unter dessen Feuerschutz zu Fuss vor. Das ist enorm blutig aus russischer Sicht.
Sie machen es trotzdem.
Ja, die treiben ihre Angriffe ohne Rücksicht auf Verluste voran.
Der Munitionsmangel auf ukrainischer Seite ist gravierend. Jetzt hat Tschechien wohl 800’000 Artilleriegranaten aufgetrieben. Was bringt das?
Das ist extrem wichtig. Zwar kommen diese 800’000 Schuss nicht alle sofort an, aber einige Chargen sind schon im März in der Ukraine. Das wird der ukrainischen Armee als Sofortmassnahme helfen, aus dem aktuellen, diesem kompletten Tief herauszukommen.
Und wenn diese Munition aufgebraucht ist?
Die Ukraine benötigt 5000 Schuss pro Tag oder 1,8 Millionen pro Jahr als Minimum, um in der Defensive zu bestehen. Die europäischen Partner produzieren dieses Jahr 1,2 Millionen Schuss, von denen der Grossteil hoffentlich in die Ukraine geht. Zusammen mit den angesprochenen 800’000 Schuss könnte das reichen, um der Ukraine über das Jahr 2024 zu helfen. Ab 2025 produziert Europa dann selbst genug.
Die Ukraine will 2024 nutzen, um die eigenen Streitkräfte zu regenerieren, neu zu konstituieren, neue Soldaten auszubilden. Ist das der richtige Weg?
Das ist aus meiner Sicht der einzig gangbare Weg.
«Klar, eine Mobilmachung ist unpopulär. Aber sie hat für die Ukraine eine existenzielle Bedeutung.»
Aber werden die Russen nicht von Monat zu Monat stärker? Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt.
Jetzt gerade befinden wir uns in der schlechtesten Phase für die Ukraine, weil Russland sich auf einem Leistungsmaximum befindet und Kiew in der Phase der bislang grössten Schwäche. Das ist aber kein linearer Trend, der ewig so weitergeht. Die Stärke der Russen wird wieder abflauen.
Was macht Sie da so sicher?
Bei dem Nachschub an Material, vor allem bei Fahrzeugen, sind sie darauf angewiesen, die Panzer, die sie schon aus dem Kalten Krieg haben, wieder einsatztauglich zu machen. Die Fahrzeuge, die im besten technischen Zustand waren, haben sie natürlich als Erstes genommen. Aber wir beobachten, dass der Output nicht mehr so hoch ist wie früher. Je älter Fahrzeuge sind und je länger sie nicht benützt wurden, desto grösser ist der Aufwand, und desto langsamer geht das.
Was ist mit der grossen Menge neuer Soldaten, die sie jeden Monat rekrutieren?
Bei den Soldaten ist es ähnlich. Die Leute, die sich durch Geld für die Front anwerben lassen, werden immer weniger. Dass die Prämien im März verdoppelt wurden, ist ein deutliches Zeichen, dass man Sorgen hat, das Tempo bei der Rekrutierung nicht mehr aufrechterhalten zu können. Aufgrund der ukrainischen Schwäche geht das gerade etwas unter, aber die Lage bei den Russen ist alles andere als entspannt.
Was muss passieren, damit die Ukraine aus der Schwächephase herauskommt?
Die Ukrainer müssen schnell eine weitere Teilmobilmachung vornehmen. Im Grunde hätte man die sofort nach der Gegenoffensive anordnen müssen. Es dauert ja, bis die Leute ausgebildet sind. Das ist unterblieben, und deshalb ist die Situation jetzt so enorm angespannt.
Selenski ist, was die Mobilisierung angeht, sehr zurückhaltend, unentschieden.
In Kiew schiebt man den Schwarzen Peter zwischen Parlament und Präsidentschaftsadministration hin und her. Klar, eine Mobilmachung ist unpopulär. Aber sie hat für die Ukraine eine existenzielle Bedeutung. Wenn man das weiter verschiebt, wird es keine Wahlen mehr geben, die man gewinnen kann. Denn dann gibt es keine Ukraine mehr. Dann gewinnen die Russen den Krieg.
Immer wieder heisst es, nur technologische Innovationen vor allem bei der elektronischen Kriegsführung, und Drohnen könnten die Ukraine noch einmal in die Lage versetzen, in die Offensive zu gehen. Dabei fehlt es mit Munition und Soldaten schon an Grundlegendem.
Wenn die Ukraine nicht genug Soldaten hat, dann nützt auch moderne Technik nichts, das stimmt. Aber nur auf Masse zu setzen und wie die Russen darauf zu hoffen, dass man den Gegner mit brachialer Gewalt bricht, wird auch nicht gehen. Dafür ist die russische Kriegsmaschinerie zu gewaltig. Und der Einfluss moderner Technik zu gross. Die Ukraine braucht also beides. moderne Technik und Soldaten.
Es ist viel von autonomen Drohnenschwärmen die Rede, Drohnen, die nicht gestört werden können.
Darin liegt viel Potenzial. Unter zwei Voraussetzungen. Erstens: Man muss diese neuen Fähigkeiten synchronisieren mit konventionellen Fähigkeiten. Grosse, autonom operierende Drohnenschwärme und beispielsweise mechanisierte Infanterie. Man muss alte und neue Fähigkeiten in Einklang bringen. In der Ukraine wird jetzt schon experimentiert, aber da ist noch viel Erprobungsarbeit zu leisten.
Was ist die zweite Voraussetzung?
Die Quantität. Bis die Ukraine neue technische Mittel in der Menge hat, dass sie einen Unterschied machen, vergeht das Jahr 2024. Die Ukraine benötigt diese Zeit, um die erforderliche Zahl an Drohnen zu produzieren und genügend neue Soldaten zu rekrutieren und auszubilden. Denn es reicht nicht, mit Drohnen an einer Stelle der Front einen Einbruch in die feindlichen Linien zu erzielen, wenn dahinter nur ein Bataillon nachrückt, weil es nicht mehr Soldaten gibt. Dadurch würden die Russen nur lernen, welche neue Taktik die Ukrainer anwenden, und sich darauf einstellen. Es ist also nicht nur eine Frage der Qualität bei Personal und Material, sondern auch eine der Quantität. Wenn diese Fragen gelöst sind, ist die Ukraine bereit, neue Angriffe durchzuführen.
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine
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